Was wirklich zählt
Was wirklich zählt
Alexander, Deutschland
„Habt ihr eure Matheklausur eigentlich schon wiederbekommen?“, fragte Jürgen Fischer seinen Sohn.
Es war Mittwochabend und Alexander Fischer aß mit seinen Eltern gerade zu Abend.
„Ja, haben wir. Ich hatte die beste Arbeit.“
„Ich hätte nichts anderes von meinem Sohn erwartet“, sagte Jürgen und blickte Alex stolz an. Aber sein Lächeln erreichte seine Augen nicht und in der nächsten Sekunde hatte er wieder seinen unergründlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt und erzählte seiner Frau irgendwelche Geschichten, die heute in seiner Anwaltskanzlei vorgefallen waren.
Alex verwunderte das nicht weiter, er hatte sich damit abgefunden, dass sein Vater sich einzig und allein für seine Leistungen interessierte. Aber auch nicht alle. Nein, dass Alex letztes Jahr den Schreibwettbewerb an seiner Schule gewonnen hatte und sein Text sogar in der Lokalzeitung erschienen war, das hatte Jürgen Fischer lediglich mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen. Das Schreiben von Geschichten und Texten war für ihn reine Zeitverschwendung, die einen nur von den wirklich wichtigen Dingen im Leben ablenkte, so predigte Jürgen stets seinem Sohn. Er tolerierte beispielsweise Alex’ Mitgliedschaft in der Schülerzeitung so lange, bis sie ihn beim Lernen von Tests beeinträchtigen würde. Seinem Vater war völlig egal, dass Alex davon träumte, ein Schriftsteller zu werden und internationale Bestseller zu veröffentlichen. Alexander war sich sicher, dass sein Vater nicht einmal wusste, wie viel Talent in seinem Sohn steckte und dessen Traum für Flausen hielt, die nicht weiter ernstzunehmend waren. Für Herrn Fischer stand fest, dass sein Sohn eines Tages seine Kanzlei übernehmen und er nach der Schule gleich mit dem Jurastudium beginnen würde.
Svea, Afghanistan
Große, braune Augen sahen das 14-jährige Mädchen aus dem Spiegel verschreckt an. Svea hasste sich dafür, dass sie ihre Gefühle nicht besser verstecken konnte. Man sah ihr die blanke Panik aus drei Kilometer Entfernung noch an – und das an dem Tag, der für viele der glücklichste ihres Lebens sein sollte. Aber so naiv war Svea nicht. Sie wusste, dass diese kindlichen Vorstellungen nicht auf ihr Leben zutrafen und auch nie zutreffen würden.
Ihre Familie hatte noch nie wirklich viel Geld gehabt, aber jetzt hatte ihr Vater zu viele Schulden gemacht. Die Gläubiger wollten ihr Geld zurück und der einzige Ausweg für ihren Vater war, seine älteste Tochter zu verkaufen. Das war nichts allzu Ungewöhnliches in ihrer Heimat und trotzdem war Svea darauf nicht vorbereitet gewesen. Ihr Vater war zwar sehr konservativ, doch hatte er nie Hand an seine beiden Töchter oder ihre Mutter gelegt. Er respektierte sie, auch wenn sie Frauen waren, und gestattete ihnen Freiheiten, von denen viele von Sveas Freundinnen nur träumen konnten. Doch jetzt hatte er sich nicht anders zu helfen gewusst und hatte seine Tochter an einen 40-jährigen reichen Mann verkauft, den er von seinem Bruder her kannte.
Svea hätte ihren Vater dafür am liebsten gehasst, doch das Einzige, was sie fühlen konnte, war Angst. Kalte, lähmende Angst.
Jeremy, Vereinigte Staaten von Amerika
Rastlos ließ er seinen Blick durch die kleine Zelle schweifen. Von den eisernen Stockbetten über die kahlen Wände zu der vergitterten Tür. Sein Zellengenosse John saß auf dem oberen Bett und blätterte in der Zeitschrift, die ihm wohl seine Frau mitgebracht hatte. Jeremy wiederholte das Ganze. Betten mit John, Wände, Tür. Und noch einmal. Und noch einmal. Was sonst hätte er auch tun sollen? Er hatte keine Frau mehr, die ihm irgendwelche Zeitschriften und Magazine vorbeibringen könnte. Auch seine Kinder konnten das nicht mehr tun.
Immer und immer wieder dachte er über das Geschehene nach, hatte er auch sonst keinerlei Beschäftigungen. Vielleicht war das ja der eigentliche Sinn hinter einer Strafanstalt. Dass die Insassen ununterbrochen über ihre Taten nachdachten und so ihre Fehler einsahen. Doch Jeremy war sich sicher, dass er nichts Falsches getan hatte.
Er hatte hier schon so viele Stunden damit verbracht zu überlegen, ob er den Mann nicht hätte töten sollen. Ob er ihm lieber mit der Zeit hätte vergeben sollen. Oder es zumindest versuchen. Aber egal wie oft er es in seinem Kopf durchspielte, für ihn hätte es keine andere Alternative gegeben.
Alexander, Deutschland
Nach dem Essen verzog sich Alex in sein Zimmer. Er warf sich auf sein Bett und barg sein Gesicht in seinen Händen. Ohne dass er es wollte, begannen sich Tränen aus seinen Augen zu lösen und bahnten sich erst langsam und dann immer schneller einen Weg über seine Wangen, hin zu seinem Kinn, wo sie sich dann sammelten und schließlich auf seine Matratze tropften. Er versuchte, seine Schluchzer zu unterdrücken und den Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken. Doch der immer größer werdenden Druck hinter seinem Brustbein ließ das nicht zu und gab Alex das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Die Wände schienen immer näher zu kommen und seine Atmung beschleunigte sich, als kein Sauerstoff in seine Lungen zu kommen schien. Alles wurde ihm zu viel, er konnte das einfach nicht mehr. Er würde sein ganzes Leben lang das tun, was jemand anderes von ihm wollte. Er würde nie frei entscheiden dürfen, was er mit seinem Leben anfangen möchte, ohne riskieren zu müssen, von seinem Vater verstoßen zu werden. Diese Erkenntnis traf Alex wie ein Schlag ins Gesicht und zerstörte etwas ganz tief in ihm. Er rollte sich auf dem Bett zusammen und ließ seinen Tränen freien Lauf.
Svea, Afghanistan
Es klopfte an der Tür und Sveas Mutter Zohra kam herein.
„Bist du bereit, mein Schatz?“, fragte sie und versuchte sich an einem Lächeln, das aber kläglich scheiterte. Svea war nicht in der Lage zu antworten und nickte stumm, während sie die aufkommenden Tränen wegblinzelte. Ihre Mutter kam näher, legte ihr ihre Hand auf die Wange und sah ihr lange in die Augen. Alles, was Svea in dem Gesicht ihrer Mutter lesen konnte, war unbeschreibliches Bedauern und Wut. Nach einer gefühlten Ewigkeit löste Zohra ihren Blick von ihrer Tochter und ließ ihn stattdessen über das opulente weiße Kleid schweifen, in dem ihr kleines Mädchen steckte. Svea schien in den Massen aus Tüll, Spitze und Glitzer regelrecht zu verschwinden und wirkte verlorener denn je.
„Wir müssen los, die Zeremonie beginnt in einer halben Stunde.“
Sveas Herzschlag beschleunigte sich bei den Worten ihrer Mutter nochmal um ein Vielfaches. In einer halben Stunde wird alles vorbei sein. Fortan wird Svea mit einem fremden Mann und dessen Familie zusammenleben müssen. Wird Dinge tun müssen, die sie nie tun wollte, und muss aufhören, Kind zu sein.
„Dann sollten wir besser gleich aufbrechen, damit wir nicht zu spät sind“, sagte Svea an ihre Mutter gewandt mit kräftiger Stimme.
Jeremy, Vereinigte Staaten von Amerika
„Wie lange hast du eigentlich noch?“
Jeremy schreckte aus seinen Gedanken hoch und blickte hinauf zu John, der ihn fragend ansah.
„Ursprünglich 15 Jahre“, antwortete Jeremy knapp. Bald hatte er wieder eine Anhörung, vielleicht ergab sich da ja etwas. Diese Information ließ er aber weg, Jeremy hatte kein großes Interesse, mit John Freundschaft zu schließen und ihm sein ganzes Herz auszuschütten.
John schien den Wink zu verstehen, sah Jeremy noch eine Sekunde lang an und blickte dann wieder gelangweilt in sein Magazin.
Jeremy hingegen versuchte sich zu erinnern, worüber er gerade nachgedacht hatte. Das fiel ihm nicht weiter schwer, wenn man bedachte, dass er im Großen und Ganzen nur an zwei Dinge dachte. Meistens aber an sein Leben vor seiner Inhaftierung. Mit seiner wundervollen Frau Jamie und seinen drei Kindern, Anabelle, Georgie und Stacie. Wie glücklich sie immer gewesen waren. Jeden Abend, wenn Jeremy aus dem Krankenhaus, in dem er gearbeitet hatte, nach Hause gekommen war, hatten alle vier schon auf ihn gewartet und waren ihm entgegengelaufen gekommen. Sie waren eine der seltenen Familien gewesen, in denen es so gut wie nie Streit gegeben hatte. Jeremy hatte sich oft gedacht, wie sehr sein Leben einem perfekten Film glich. Doch so wie in den meisten Filmen, änderte sich dies von einem Moment auf den anderen.
Alexander, Deutschland
Gefühlte Stunden später gelang es Alex wieder, sich zu beruhigen, und seine Tränen versiegten. Es geschah in letzter Zeit häufiger, dass er so die Fassung verlor. In Gedanken ermahnte Alex sich, sich jetzt zusammenzureißen und sich auf morgen vorzubereiten. Er musste noch Chemie und Wirtschaft lernen, in wenigen Tagen würde er in beiden Fächern Schulaufgabe schreiben. Zumindest in Wirtschaft und Recht erwartete Jeremys Vater auch wieder 15 Punkte. Immerhin sollte er ja die Kanzlei übernehmen und da wäre es peinlich, wenn er ausgerechnet in diesem Fach „versagen“ würde.
Schweren Herzens setzte Alex sich also an seinen Schreibtisch und schlug seine Unterlagen auf. Doch heute schienen sich alle Worte, die er las, sofort wieder zu verabschieden. Er war nicht wirklich bei der Sache und Alex’ Gedanken kreisten um seine Zukunft. Wie sollte er seinem Vater klarmachen, dass er sich in einem halben Jahr nach seinem Abi nicht für ein Jurastudium einschreiben wollte? Es war immerhin der gesamte Rest seines noch nicht zu langen Lebens. Alexander konnte seinen Traum doch nicht einfach so wegwerfen. Das ging nicht.
Verzweifelt stützte Alex sein Kinn auf seine Hände, als es zaghaft an seiner Zimmertür klopfte.
Svea, Afghanistan
Sie wusste nicht, wie der Tag verging, aber er tat es. Über ihre ganze Erinnerung hatte sich eine Art Schleier gelegt, als würde ihr Unterbewusstsein sie vor der schrecklichen Wahrheit beschützen wollen.
Svea wurde das Ganze erst richtig bewusst, als sie in den frühen Morgenstunden nicht zurück zu ihrem Elternhaus fuhr, sondern in dem Auto ihres neuen Mannes Tjark saß, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt werden sollte. Ganz klein versuchte Svea sich zu machen, als ihr neuer Ehemann seinen Arm in einer besitzergreifenden Geste um ihren schmalen Körper legte. Er grinste sie dreckig an und Svea lief es kalt den Rücken herunter. Angewidert drehte sie den Kopf zur Fensterscheibe und hoffte einfach, dass das Ganze nur ein Alptraum war und sie aufwachen würde.
Doch leider wachte Svea nicht auf.
Als sie in ihrem neuen Zuhause ankamen, packte Tjark Svea grob am Arm und zog sie hinein. Auf direktem Weg ins Schlafzimmer stolperte Svea auf ihren hohen Schuhen hinter dem großen Mann her.
„Zieh dich aus!“, befahl Tjark mit einem lüsternen Blitzen in seinen Augen.
Verängstigt sah Svea sich in dem Zimmer um, während sie mit zitternden Fingern seiner Aufforderung folgte. In der Mitte stand ein großes Bett und eine Tür grenzte in das Badezimmer nebenan. An einer der Wände war ein hässlicher Schrank gestellt worden und ansonsten war der Raum schmucklos. Nur ein mickriges Fenster in der anderen Wand würde tagsüber etwas Licht hereinbringen.
„Was trödelst du so?!“
Jeremy, Vereinigte Staaten von Amerika
Der Tag der Anhörung kam und ging. Er wurde gefragt, wieso er es getan hatte. Dabei hatte Jeremy genau gesehen, dass jeder in diesem Raum nicht nur gewusst, sondern auch verstanden hatte, warum er ihn ermordet hatte. Wer hätte das auch nicht? Jeremy war danach wieder in seine Zelle gebracht worden und jetzt, nachdem alles vorbei war, konnte er die Erinnerungen nicht mehr zurückhalten. Sie stürzten sich auf Jeremy wie eine gewaltige Welle, die ihn für immer mitreißen und unter sich begraben wollte.
Es war ein Tag wie jeder andere gewesen. Wobei, das stimmte nicht ganz. Im Krankenhaus war ein Vater mit seinem Sohn gewesen, der behauptet hatte, sein Kind wäre die Treppe hinuntergestürzt. Wie oft hatten Jeremy und seine Kollegen das schon gehört. Ein Treppensturz sei verantwortlich gewesen. Nur wies der kleine Junge Verletzungen auf, die eher häusliche Gewalt als den besagten Sturz vermuten ließen. Letztendlich verständigte Jeremy das Jugendamt, wie es eben üblich war in solchen Fällen, und hatte eigentlich schon mit diesem Vorfall abgeschlossen.
Was er nicht hatte ahnen können, war, dass man dem Vater noch am selben Tag vorerst das Sorgerecht entziehen und sein Sohn danach in eine Pflegefamilie kommen würde. Auch hatte Jeremy nicht wissen können, dass dieser Mann nun ihn für alles verantwortlich machte und er generell psychisch instabil war.
Aber an das alles dachte Jeremy nicht mehr, als er an diesem Abend nach Hause gekommen war. Er hatte sich zwar gewundert, dass seine Kinder nicht wie sonst draußen auf ihn gewartet hatten, hatte sich aber nichts weiter dabei gedacht.
An der Haustür angekommen, hatte Jeremy bemerkt, dass diese offen war. Merkwürdig. Er hatte plötzlich eine seltsame Unruhe in seinem Magen gespürt und es war ihm, als würde er sich übergeben müssen. Langsam und mit stockendem Atem hatte er die Tür aufgeschoben.
Alexander, Deutschland
„Kann ich reinkommen?“, fragte Alex’ Mutter Elisabeth zögerlich.
Als sie keine Antwort bekam öffnete sie schließlich die Zimmertür und betrat das Zimmer. Elisabeth sah sich kurz in dem Raum um, ehe ihr Blick zu ihrem Sohn schweifte und diesen musterte. Zweifellos sah sie, dass er geweint hatte, denn sofort verwandelte sich der Ausdruck in ihren Augen in unbeschreiblichen Kummer.
„Es tut mir so leid, Liebling. Er meint das nicht so. Er hat dich lieb, das weißt du doch. Das weißt du doch, oder?“ Elisabeths Stimme nahm einen verzweifelten Ton an, als sie die Bitterkeit auf Alex’ Gesicht erkannte.
„Ich kann nicht mehr, Mama“, war alles was Alex hervorbrachte, bevor er in Tränen ausbrach. Binnen weniger Sekunden war seine Mutter da und nahm ihn in ihre Arme.
„Ich weiß.“ Immer wieder murmelte Elisabeth diese beiden Worte, während sie Alex in ihren Armen barg und beruhigend über den Kopf strich.
Alex wusste, dass seine Mutter verstand, dass er nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte. Dass er davon träumte, Schriftsteller zu werden. Dass er seine ganze Freizeit damit verbrachte, sinnlose Formeln und Definitionen auswendig zu lernen. Alles, um seinem Vater zu gefallen. Alexander fühlte sich so hilflos und gefangen, wie noch nie zuvor.
„Wir finden eine Lösung, Alex. Das verspreche ich dir“, sagte Elisabeth, als er sich wieder beruhigt hatte.
Svea, Afghanistan
Ein Tag kam. Ein Tag ging. Eine Nacht kam. Und sie ging. Dafür kam ein neuer Tag, ehe dieser wieder ging. Nur um von einer weiteren Nacht abgelöst zu werden. Und Svea hasste die Nächte. Nicht dass die Tage besser waren, nein. Aber nichts war schlimmer, als jede Nacht mit diesem Mann verbringen zu müssen. Ekel kam nicht einmal annährend heran, um dies zu beschreiben.
Tagsüber musste sie sich um das Haus kümmern und kochen. Dann – an manchen Tagen – trug ihr ihre Schwiegermutter noch Aufgaben auf. Erfüllte Svea diese nicht, wie die Frau es sich vorstellte, schlug sie das Mädchen so lange, bis es sich nicht mehr wehrte oder schrie. Aber dabei beließ sie es nicht. Sobald ihr Sohn Tjark nach Hause kam, berichtete sie ihm von Sveas Versagen und er fand noch weitere Wege, um seine Frau zu bestrafen. Svea hasste sie. Sie hasste alle. Bis auf ihren Ehemann. Ihn hasste Svea nicht. Denn Hass wurde dem, was sie fühlte, nicht gerecht. Nein, es gab etwas, das stärker war als Hass, etwas, das man nicht in Worte fassen konnte.
Doch mit der Zeit verschwand dieses Gefühl. Aber nicht nur dieses eine. Alles verschwand. Nichts blieb zurück. Nur eine dumpfe Leere, die daran erinnerte, dass etwas fehlte.
Jeremy, Vereinigte Staaten von Amerika
Immer und immer wieder durchlief sein Kopf diesen Tag und quälte Jeremy mit den Bildern jenes Tages. So wie heute versuchte er dann sich abzulenken, egal was, nur damit er aufhören konnte, daran zu denken. Jeremy versuchte wieder, was er immer tat. Er ließ seinen Blick durch die Zelle schweifen, Stockbetten, Wände, vergitterte Tür. Stockbetten, Wände, vergitterte Tür. Stockbetten, Wände, vergitterte TÜR. STOCKBETTEN. Es half nicht. Warum, verdammt, half es nicht? Die Bilder verschwanden nicht. Sie gingen nicht weg. Nicht heute. Nicht an dem Tag, an dem es sich jährte.
„Hey, bist du okay?“, fragte John ihn und sah ihn mit einer Mischung aus gleichzeitig Interesse und Desinteresse an, sofern das möglich war.
Jeremy nickte knapp, doch er konnte nicht verhindern, wie der Zorn, den er versuchte zu unterdrücken, langsam nach oben kroch. Er war immer noch so wütend.
„Du siehst aus, als könntest du ein bisschen Ablenkung vertragen“, meinte John nach einer Pause und warf eine seiner Zeitschriften zu ihm hinüber. Dann musterte er Jeremy noch einmal kurz von oben bis unten und richtete seine Aufmerksamkeit danach wieder auf das Magazin in seinen Händen.
Jeremy sah erstaunt auf. Offensichtlich war John nicht so schlimm, wie er gedacht hatte. Vielleicht hätte er in ihm einen guten Freund gefunden, hätte er sich von Beginn an darum bemüht. Aber das war Jeremy egal gewesen. War die Wut, die er jetzt fühlte, schon überwältigend, so war sie doch kein Vergleich zu dem, wie Jeremy sich vor mehreren Jahren an seinem ersten Tag in Haft gefühlt hatte.
Trotzdem hatte Jeremy es wohl geschafft, den Beamten in seiner Anhörung glaubhaft zu machen, er hätte diesen Zorn mittlerweile unter Kontrolle, denn noch an diesem Tag kam ein Mann im Anzug in Jeremy und Johns Zelle.
„Sind Sie Jeremy Anderson? Ich habe eine Nachricht für Sie.“
Alexander, Deutschland
„Hast du schon nach Universitäten in der Nähe gesucht?“, fragte Alexanders Mutter ihn am nächsten Tag während des Abendessens.
„Wieso nach Universitäten suchen? Was redest du, Elisabeth? Wir werden ihn doch an der gleichen Uni einschreiben, an der ich war“, schaltete sich Jürgen ein.
Alex schluckte. Das war der Moment, vor dem er sich seit einigen Jahren gefürchtet hatte. Gestern hatte er mit seiner Mutter eine Art Plan ausgearbeitet, wie sie seinem Vater mitteilen würden, dass Alexander sich etwas anderes vom Leben wünschte, als in irgendeiner Anwaltskanzlei zu sitzen ohne jegliche Kreativität bei der Arbeit. Beide waren der Ansicht gewesen, dass es besser wäre, Jürgen Fischer vor vollendete Tatsachen zu stellen, anstatt zu versuchen, vernünftig mit ihm zu reden und es ihm erklären zu wollen. Das würde nicht funktionieren.
Alexander räusperte sich und sein Vater sah mit einem verwirrten Ausdruck in seinen Augen zu ihm herüber.
„Also, Papa, ich wollte dir das schon lange sagen, aber du hörst mir nie wirklich zu oder du hast grade keine Zeit oder bist grade mit anderen Dingen beschäftigt…“, begann Alex hastig zu sprechen, wobei er sich an mehreren Stellen vor lauter Anspannung verhaspelte.
„Rede nicht so lange um den heißen Brei rum! Du weißt doch, wie ich das hasse“, unterbrach ihn sein Vater.
„Papa, ich werde nicht Jura studieren. Ich will, und werde auch, Kreatives Schreiben und Journalismus studieren. Ich werde Schriftsteller.“
Svea, Afghanistan
Nein, nein, nein, nein. Das durfte nicht sein. Und doch waren bereits zwei oder drei Monate vergangen, in denen etwas gefehlt hatte. Erst war es Svea nicht aufgefallen, denn sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Doch jetzt fühlte sie sich, als hätte ihr jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gegossen.
Als sie an sich heruntersah, konnte sie deutlich eine kleine Wölbung erkennen, und als sie mit der Hand darüber strich, fühlte Svea es auch. Etwas hatte sich verändert. Schon seit längerem war ihr morgens übel, doch hatte sie dem keine große Beachtung geschenkt. Auch Sveas Appetit hatte sich vergrößert und ihre Kleider spannten ein wenig. Nichtsdestotrotz war es ein gewaltiger Schock für Svea, als sie die Erkenntnis schließlich traf.
Sie war doch selber noch ein Kind. Wie sollte sie eines großziehen können? Auch noch das Kind des Mannes, den sie aus tiefstem Herzen verabscheute. Wie würde er überhaupt darauf reagieren? Was, wenn es ein Mädchen und kein Junge war? Würde er es abtreiben lassen wollen? Und wenn nicht, wie könnte sie das Kind vor ihm beschützen, wenn sie doch nicht mal sich selbst schützen konnte?
Panik stieg in Svea hoch und sie begann hektisch zu atmen. So viele Fragen und keine einzige Antwort. Sie stand vor einem riesigen, schwarzen Abgrund, der sie zu verschlingen drohte.
Doch dann, langsam, begann sich ein Gedanke in ihrem Kopf zu formen. Erst ließ er sich nur schwer erkennen, als würde man durch Milchglas sehen. Mit der Zeit wurde er dann deutlicher und schließlich konnte Svea ihn fassen.
Jeremy, Vereinigte Staaten von Amerika
„Also, Dr. Anderson, ich habe gute Nachrichten für Sie. Ihre Anhörung ist gut gelaufen, Sie werden in einigen Wochen auf Bewährung entlassen. Später wird noch Ihr Anwalt vorbeikommen und mit Ihnen noch einmal alles genauer durchgehen. Er wird auch Ihre Fragen beantworten können, sofern Sie noch welche haben…“
Jeremy hörte nicht mehr zu. Seine Ohren verweigerten ihren Dienst und auch sein Gehirn schien sich ihnen anschließen zu wollen. Entlassen. Dieses Wort kreiste ununterbrochen in seinem Kopf herum. Er entsann sich kaum noch, wie seine Tage abgelaufen waren, bevor er hierhergekommen war. Natürlich, an seine Familie konnte er sich erinnern, aber wie war es gewesen, ein freier Mann zu sein? Das zu tun, worauf er Lust hatte?
Jeremys Körper begann zu zittern, als würde Strom durch ihn hindurchfließen. Lauter Erinnerungen an sein früheres Leben strömten auf ihn ein, als hätte jemand einen Damm zerschlagen. Vorfreude regte sich in ihm. Ja, tatsächlich. Jeremy erschauderte, als ihm bewusst wurde, dass dies das erste Mal seit langem war, dass er so etwas fühlte.
Gleichzeitig aber kroch eine Angst in Jeremy hoch. Er fürchtete sich davor, wie sein Leben jetzt sein würde. Ohne seine Frau und seine Kinder. Was würde aus seinem Beruf werden? Niemand würde einen Arzt anstellen, der mutwillig jemanden ermordet hatte.
Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf und waren ein einziges Durcheinander.
„Dr. Anderson? Ist alles in Ordnung?“, fragte der Kerl im Anzug.
„Das weiß ich noch nicht, Sir.“
Alexander, Deutschland
Schweigen. Keiner sagte auch nur ein Wort. Alexanders Inneres tobte und das Abwarten auf die Reaktion seines Vaters bereitete ihm beinahe physische Schmerzen. Nach einiger Zeit, die Alex wie eine Ewigkeit vorkamen, durchbrach Jürgen Fischer endlich die Stille. Er gab seltsame Laute von sich und Alex brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass sein Vater lachte. Er lachte! Alex hatte ihm gerade endlich seinen Traum gestanden und er lachte ihm ins Gesicht!
„Das ist mein Ernst! Du kannst mich nicht zwingen, Jura zu studieren!“, schrie Alex. Es war das erste Mal, dass Alex seine Stimme gegen seinen Vater erhoben hatte. Auch Jürgen schien das zu merken und sein Lachen verstummte augenblicklich.
„Nein, das kann ich nicht. Aber ich kann dir meine Unterstützung verweigern.“
„Ich brauche deine Hilfe nicht!“
„Ach nein? Wie willst du deinen Lebensunterhalt denn dann finanzieren?“
„Du musst mir eine bestimmte Summe zahlen, das ist gesetzlich vorgegeben“, antwortete Alex mit immer noch vor Wut bebender Stimme.
„Willst du mich etwa anzeigen, Alexander? Viel Glück bei der Suche nach einem Anwalt“, höhnte sein Vater.
Wie war das so aus dem Ruder gelaufen? Alex und seine Mutter hatten sich einen festen Plan zurechtgelegt und jetzt schrien sie sich nur gegenseitig an. Alex musste schleunigst seine Fassung zurückgewinnen, sonst würde das Ganze noch mehr ausarten, und er wollte seinen Vater doch nicht verlieren.
Gerade, als Alex ansetzte, meldete sich seine Mutter zu Wort: „Jürgen, du hast von Anfang an gewusst, dass dein Sohn sich nicht für deine Kanzlei interessiert. Aber du hast es ignoriert. Dir war egal, wie schlecht es ihm aufgrund deiner hohen Ansprüche oft ging und nach wie vor geht. Aber das ist jetzt vorbei. Jetzt geht es wirklich um seine Zukunft, und ich lasse nicht zu, dass du sie ihm ruinierst und ihm nicht einmal eine Chance gibst, sich zu verwirklichen.“
Sprachlos starrte Jürgen seine Frau an.
Svea, Afghanistan
Atemlos lag Svea im Bett und lauschte angestrengt dem Atmen des Mannes neben sich. Erst als sie sich sicher war, dass er gleichmäßig ging und sich ab und zu ein Schnarchen daruntergemischt hatte, wagte sie es, lautlos unter der dünnen Decke hervorzukriechen. Ebenso geräuschlos zog Svea die Tasche unter dem Bett hervor, die sie gepackt hatte, als sie tags zuvor einige ungestörte Momente alleine gewesen war. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür. Langsam drückte sie die Klinke herunter. Ein leises Quietschen ließ Svea in der Bewegung verharren. Angespannt sah sie zu dem schlafenden Tjark und blieb einige Sekunden regungslos stehen, ehe sie den Türgriff vollends herunterdrücken wollte. Doch die Tür blieb zu. Irritiert versuchte Svea es mit ein wenig Druck, aber auch dann geschah nichts. Sie musste verschlossen sein. Am liebsten hätte sie laut geflucht, aber das brachte sie auch nicht weiter. Svea musste überlegen, wo Tjark den Schlüssel aufbewahren könnte. So viele Versteckmöglichkeiten gab es in dem kleinen Raum nicht. Sie ließ ihren Blick durchs Zimmer gleiten und da bemerkte sie es. Die eine Schublade des kleinen Nachtschranks neben Tjarks Bettseite stand ein wenig hervor, und Svea hätte schwören können, dass sie, bevor sie zu Bett gegangen war, komplett zu gewesen war. Also schlich sie vorsichtig hin, zog die Schublade auf und tatsächlich: Drinnen lag der kleine Schlüssel! Svea warf einen letzten Blick auf den Mann vor ihr, bevor sie sich umdrehte, den Raum verließ und anschließend die Tür hinter sich zusperrte.
Damit war das erste Hindernis überwunden. Blieb noch der Weg durch den Flur, vorbei an dem Schlafzimmer ihrer Schwiegereltern und dem von Tjarks Bruder.
So leise wie möglich rollte Svea ihre nackten Füße auf dem Boden ab und kam so nur äußerst langsam voran. Aber würde man sie jetzt erwischen, würde sie nie wieder eine Chance auf eine Flucht erhalten.
Sie war schon an der Haustür angekommen, als ein Knacken sie zusammenfahren ließ.
Jeremy, Vereinigte Statten von Amerika
Es war so weit. Das war der Moment, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er auf ihn gewartet hatte. Nach dem Tod seiner Familie hatte Jeremy keinen Sinn mehr gesehen und dementsprechend hatten ihm seine Festnahme und der daraus folgende Freiheitsentzug nicht wirklich etwas ausgemacht. Aber jetzt merkte Jeremy, dass ihm etwas gefehlt hatte. Ein Teil in sich brauchte die Freiheit, die ihm genommen worden war, zum Leben. Ohne sie hatte er sich nicht vollständig gefühlt.
Jetzt, als er den ersten Schritt aus dem Grundstück, auf dem er sich für die letzten Jahre seines Lebens die meiste Zeit über aufgehalten hatte, heraus auf neutralen Boden setzte, spürte er einen Teil seiner Lebensfreude zurückkommen.
Natürlich war das nicht annähernd mit dem Gefühl vor all dem zu vergleichen, aber es war etwas. Trotzdem würde Jeremy nie mehr wirklich frei sein können, auch das wurde ihm klar, als er in dem Auto seines Bruders saß, der ihn vorerst bei sich aufnehmen würde. Die Narben und auch die Schuldgefühle blieben und sperrten ihn ein, doch daran würde er nie etwas ändern können. Jedoch war das jetzt alles für den Moment egal, es zählte nur, dass er zumindest seine körperliche Freiheit wiederhatte und ein neues Leben beginnen konnte. Oder es zumindest versuchen konnte.
Alexander, Deutschland
In Gedanken versunken packte Alex seine Tasche mit all den Dingen, die ihn an sein altes Leben erinnern würden. Vielleicht sollte er sie gar nicht mitnehmen. Er sollte etwas Neues beginnen und sich nicht mit all den beengenden Gefühlen aus der Vergangenheit beschäftigen, die ihn gefangen hielten und die diese Gegenstände aber mit sich brachten.
So in Gedanken bemerkte er erst gar nicht, dass seine Mutter sein Zimmer betreten hatte.
„Wie weit bist du schon?“, erkundigte sie sich.
„Fast fertig.“
„Sehr gut. Dann kann ich das Auto schon mal vorfahren und den ersten Koffer mitnehmen?“
Alex nickte bestätigend, während er sich wieder seinen Habseligkeiten zuwandte. Er packte sie schließlich doch ein, wegwerfen konnte er sie später noch.
Alex konnte es noch gar nicht glauben, dass es endlich so weit war. In Kürze begann sein erstes Semester in Kreativem Schreiben und Journalismus. Endlich konnte Alex genau das tun, was er schon immer tun wollte. Er fühlte sich so frei und unbeschwert wie nie zuvor in seinem Leben. Einzig und allein ein Gedanke trübte seine Freude.
„Mama? Glaubst du, Papa wird es irgendwann einmal verstehen?“, fragte er in wehmütigem Ton.
„Gib ihm Zeit, Schatz. Er wird es verstehen. Nur braucht er dafür einfach etwas länger. Mach dir darüber keine Gedanken und genieße dein neues Leben, in welchem du tun und lassen kannst, wonach immer dir ist.“
Dankbarkeit für alles, was seine Mutter jemals für ihn getan hatte, durchströmte ihn. Alex schloss die Frau, die ihm immer beistehen würde, fest in seine Arme und verbannte all seine Sorgen und Ängste aus seinem Kopf.
Svea, Afghanistan
Die Katze. Es war nur die Katze gewesen, die wohl von Sveas nächtlichem Umherwandern wachgeworden war. Ein leiser Seufzer entwich ihr und ihr Herzschlag verlangsamte sich wieder. Sie wandte sich um und öffnete die Tür in die Freiheit. Svea musste sich stark zusammenreißen, um keinen leichtsinnigen Fehler zu machen und doch noch jemanden zu wecken. Sobald sie die Haustür wieder hinter sich leise ins Schloss gezogen hatte, war Svea losgerannt. So schnell wie möglich, einfach weg. Weit, weit weg von allem und jedem, der sie kannte. Mit jedem Schritt ließ sie ihr Leben weiter hinter sich und löste damit ihre Ketten immer ein wenig mehr. Erst als ihr Atem in ihren Lungen brannte und sie nur noch verschwommen sehen konnte, stoppte Svea. Sie ließ sich auf die trockene Erde fallen und saß einige Zeit nur schwer schnaufend da.
Endlich hatte sie es geschafft. Sie hatte zwar keine Ahnung, wohin sie sollte, aber das war ihr egal. Sie war frei. Und wenn es nur für einen kurzen Moment war und sie nach wie vor ein Kind in sich trug, für das sie die Verantwortung hatte, und noch zahlreiche weitere Hindernisse, die es zu überwinden galt, so war sie dennoch nicht mehr gefangen. Ihre Lebensgeister kehrten zurück und ein kleines, schmales Lächeln stahl sich auf Sveas Lippen, als sie nach oben zum Mond blickte
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