Alle lieben Willow
Schreibwettbewerb der Hanns-Seidel-Stiftung 2019:
Gegen Hass, Hetze und Lügenbotschaften anschreiben
Auszeichnung für Julia Rieger
„Mi mi mi“, singe ich mein Spiegelbild an. „Mi mi mi mi mi miiiiii!“
Meine Stimme, natürlich perfekt wie immer.
Ich zwinkere in den Spiegel und lächle. Zum Anbeißen. Einfach zum Anbeißen, diese Willow Hutson. Willow Hutson – ein Weltstar.
Ich knurre wie ein Tiger und fletsche die Zähne. Mann, sieht das sexy aus. Granate, einfach Granate.
„Valety!“, brülle ich nach draußen. „Wo bleibt mein Kleid?“
Valety kommt angetrabt, einen scheußlichen, grau-weiß-gestreiften Anzug über den Arm gehängt.
„Was soll das sein?“, frage ich langsam.
„Dein Outfit für die Show“, piepst Valety.
Ich springe auf und Valety scheint unter meinem zornigen Anblick ein gutes Stück zu schrumpfen.
„Aber Thomas hat gesagt …“, sagt sie.
„Es ist mir egal, was Thomas sagt. Für was bezahle ich ihn? ICH WILL EIN KLEID!“
Valetys Anblick gleicht mehr und mehr dem einer Tomate. Ich liebe Tomaten, wirklich, denn sie machen schlank. Nicht, dass ich das nötig hätte ...
„Aber die Show ist schon in zwei Stunden … Wie soll Thomas das schaffen, ich meine …“, stottert sie.
„Valety“, seufze ich und setze ein Lächeln auf. „Wer ist die Popqueen?“
„Du bist die Popqueen.“
Mein Lächeln wird breiter. „Wer lässt dich immer in dem roten Ferrari rumkurven?“
„Du“, nuschelt sie.
„Wer kann dich jederzeit feuern?“
Valety zieht den Kopf ein und blickt schweigend zu Boden.
„Was ist das?“, frage ich noch einmal mit Blick auf das grau-weiße Ungetüm.
Valety kichert nervös. „Gar nichts, Willow, gar nichts. Ich sage Thomas einfach … er …“
Valety verbeugt sich zerstreut und eilt aus meiner Garderobe.
„O mein Gott“, stöhne ich und schüttle entrüstet den Kopf.
Ich lasse mich auf meinen Schminktischstuhl plumpsen und nehme mein Smartphone in die Hand. Aufregung tut meinem Teint gar nicht gut, sagt Paris immer, meine Stylistin und die einzige fähige und kluge Person in diesem Haus.
Ich lege mein Handy auf meine Wange und atme langsam aus, bevor ich meine Finger über das hochwertige Display gleiten lasse und Instagram öffne.
Willow, du bist mein Leben! Deine Musik inspiriert mich jeden Tag aufs Neue!, hat jemand, der sich WillowHutsonHusband nennt, unter meinen neusten Beitrag geschrieben.
Hier ist Anna und ich bin zehn Jahre alt und wenn ich groß bin, lasse ich mich so lange operieren, bis ich aussehe wie du!, ist die Mitteilung von Schuffipuff.
Ohhh, voll lieb, schreibe ich zurück.
Ich scrolle durch meine ganzen Fannachrichten und stupse dann meinem eigenen Spiegelbild auf die Nase.
„Man kann dich einfach nicht nicht lieben, du süßes Häschen!“
„Du hast ja so Recht!“, ertönt eine Stimme von hinten.
„Paris!“, quieke ich erfreut und lehne mich erschöpft nach hinten.
„Bitte, Paris, du musst mir helfen. Siehst du diese Sorgenfalte auf meiner Stirn? Die kommt von diesem unglaublichen Dauerstress hier. Ich muss ja so viel leisten!“
„Du hast ja so Recht“, sagt Paris.
Mein Handy klingelt. Es ist mein Manager. „… Nein, tut mir leid, in einer Woche bin ich auf Wellnessurlaub in Mallorca. … Was soll das heißen, schon wieder?“, fauche ich ins Telefon und lege auf.
Ich schließe die Augen, während Paris mein Haar zu einem großen Stapel auf meinem Kopf auftürmt.
„Ich sollte mehr Geld für dieses ganze Affentheater bekommen“, empöre ich mich.
„Du hast ja so Recht“, sagt Paris und klebt mir künstliche Wimpern auf.
Mein Handy klingelt schon wieder. Diesmal ist es mein Architekt aus New York.
„… Wie, der Bau meiner Villa verzögert sich? In was soll ich jetzt bitteschön wohnen? … Was mit meinem Penthouse in Paris ist? Nun ja, das ist doch viel zu klein. … Die Villa in London? Vollkommen aus der Mode! Wissen Sie was? SIE SIND GEFEUERT!“, brülle ich ins Telefon.
„Nur Idioten, sag ich dir. Alles nur Idioten“, schnaube ich.
„Du hast ja so Recht“
„Du bist die Einzige, die mich versteht.“
„Du hast ja so Recht.“
Ich lese die Kommentare auf meiner Instagramseite weiter.
Da ist schon wieder eine Nachricht von WillowHutsonHusband.
Ich schmunzle. „Hör mal: Willow, ich liebe dich vom ersten Augenblick an! Dein Haar, so golden wie die Sonne, deine Lippen, so rot wie Rosen! Deine Stimme, zarter als Schneeflocken, die auf dem Boden aufkommen! Du bist meine Muse! Heirate mich!“ Ich lache auf. „So ein Verrückter!“
„Du hast ja so Recht“, sagt Paris.
Ich tippe eine Antwort: Komm zu meinem Konzert, dann heiraten wir! Zwinkersmiley. Lachsmiley.
Keine zwei Sekunden später schreibt WillowHutsonHusband zurück: Ich werde da sein. Herz. Herz.
Ich lache und schüttle den Kopf.
Da öffnet sich die Garderobentür und ich höre das Klacksen von zwei hohen Stöckelschuhen.
„Na endlich“, brumme ich und drehe mich auf meinem Schminktischstuhl um.
„Willow, meine Liebe, es tut mir ja so leid. Diese Valety ist so was von unfähig. Sie hat das falsche Outfit mitgenommen! Ha ha ha ha!“, zwitschert Thomas und gibt mir zur Begrüßung zwei Küsschen auf die Wangen. „Ach Gottchen, jetzt hab’ ich einen dicken Lippenstiftschmatzer auf deinem Gesicht hinterlassen!“, sagt er, holt ein Taschentuch aus seiner Handtasche und beginnt, den Lippenstift über mein halbes Gesicht zu verschmieren. Er hält inne und lächelt hilflos. „Paris, meine Liebe, das bekommst du doch sicher wieder hin?“
Paris schnaubt verärgert und drängt ihn zur Seite, um mein Gesicht wiederherzustellen.
Thomas räuspert sich. „Willow, hier ist dein Kleid. Ohne mich zu loben, natürlich wieder ein Meisterwerk! Siehst du diese Raffinesse in diesem Schnitt? Und diese Rüsche hier oben!“
Er legt die Hände aufs Herz und seufzt verträumt.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Du hast Valety diesen Anzug mitgegeben, weil du das Kleid hier selbst behalten wolltest, richtig? Dachtest dir wohl: Man kann’s ja mal probieren, was?“
„Natürlich nicht!“, meint Thomas und stößt ein schrilles Lachen aus. Trotz seiner dicken Schicht Make-up wird sein Gesicht purpurrot. „Obwohl ich zugeben muss, dass es mir sicher ganz wunderbar gestanden hätte.“
„Davon bin ich überzeugt“, schmunzle ich, schnappe mir das Kleid und ziehe den Vorhang meiner Umkleide zu.
„Das ist aber … ganz schön eng!“, keuche ich, während ich versuche, den Reißverschluss hochzuziehen.
Thomas verzieht den Mund. „Kein Wort gegen meine Kreation! Luft anhalten!“, sagt er und zieht den Reißverschluss mit einem Ruck zu.
„Ich denke, du wirst zu dick, meine Liebe“, lacht er und schüttelt den Kopf.
„Ich denke, du hast einfach zu eng geschneidert“, gebe ich zurück und drehe mich im Spiegel. Ich und dick? Lächerlich. Meine Figur ist makellos, alles an mir ist makellos.
Denn Willow Hutson ist ein Sahneschnittchen.
Zwei Stunden später:
„Bist du aufgeregt?“, fragt mich Valety mit ihrer piepsigen Stimme kurz vor meiner Show und hilft mir auf die Schaukel, die in der Mitte der Bühne hängt.
Ich verdrehe die Augen. „Du sprichst hier mit Willow Hutson.“
Ich bringe mich in Pose, während die Schaukel hochgezogen wird.
„Viel Spaaaß!“, ruft mir Valety zu und winkt, bevor die Schaukel die Decke erreicht und mit einem Wackeln zum Stehen kommt.
Das Publikum verstummt, als es plötzlich ganz dunkel wird und eine große 10 am Bühnenbildschirm erscheint. 9 – 8 – 7
Ein aufgeregtes Flüstern ist zu hören.
6 – 5 – 4
„WILLOW!“, brüllt ein Fan.
3 – 2 – 1
Der Vorhang geht auf. Ich atme durch und setze das Mikrophon an die Lippen, als eine große, leuchtende 0 am Bildschirm erscheint und die Musik beginnt. Ich spüre, wie ich mich abwärtsbewege.
„The moon shines bright. There’s nothing more than this light …“, singe ich leise. Die Menge kreischt auf, als ich in Sichtweite komme. Ich schwebe vor einem großen Bildschirmvollmond hin und her, als schon wieder ein Fan „WILLOW!“ brüllt. „WILLOW! WILLOW! WILLOW! HIER BIN ICH! WILLLLOWWWW! SIEHST DU MICH? HIER! HIER!“
Ich singe unbeirrt weiter. Fans in Ekstase bin ich gewohnt. „I will love you everytime. Please say yes and you are mine.“
„WILLOW! WILLOW! WILLLLLLOOOOOWWWWWW‼‼‼“
Er zerstört langsam die ganze Stimmung! Nur nicht aufregen. Nur nicht aufregen.
Ich beobachte, wie sich der Fan – ein bulliger, älterer Mann mit dickem Bierbauch und fettigem, ungekämmtem Haar – den Weg durch die Menge kämpft und dabei laut weiterbrüllt. Die Leute um ihn herum wirken irritiert, einige werfen ihm böse Blicke zu.
„It’s the moon that makes us fly.“
„WILLOW! ICH BINʼS!“
Als der Mann auf die Bühne klettert und mit ausgebreiteten Armen auf mich zurennt, werden auch die Security-Leute aufmerksam.
Gerade, als ich denke, wie froh ich darüber bin, hier oben auf meiner Schaukel zu sitzen, setzt sie sich in Bewegung und schwebt noch weiter nach unten. Nein, nein, nein. Bitte wieder hoch, flehe ich in Gedanken.
Der Mann steht mit ausgebreiteten Armen unter mir.
„Spring! Ich fang dich auf!“, brüllt dieser Verrückte und blickt mir freudestrahlend entgegen. Ich ziehe die Beine an und klammere mich an die Schaukel. Die Security-Leute sind schon unterwegs, doch der Mann zerrt mich einfach herunter und umklammert mich fest mit seinen Armen.
„Lass … mich!“, kreische ich und schlage wild um mich. Das Mikrophon fällt zu Boden und ein schrilles Quietschen ertönt. Dieses Quietschen vermischt sich mit einem ein lautes Ratsch!. Oh, nein! Nicht auch das noch. Die hintere Naht meines Kleides ist aufgeplatzt. Ich könnte Thomas erwürgen. Er hat es einfach zu eng gemacht. Doch das ist im Moment mein geringstes Problem. Endlich kann ich mich befreien, doch er umfasst meine Hände, während er auf die Knie geht und das Mikrophon aufhebt.
„Willow, ich bin’s! WillowHutsonHusband! Mein Name ist Harald Hanfstängel“, spricht er feierlich hinein. „Ich möchte dich hier, noch einmal ganz offiziell fragen, ob …“
Da packen ihn zwei Security-Männer von hinten und ziehen ihn von mir weg.
Er blickt verwirrt um sich. „Was ist denn hier los? Willow, sag ihnen doch, wer ich bin!“
Ich bin wie erstarrt und schaue ihn mit angstvollen Augen an.
„Willow!“, schreit er mich an. „Du liebst mich! Du, du hast gesagt, wir heiraten!“ Seine Stimme schlägt ins Weinerliche um, während ich unfähig bin, irgendetwas zu denken.
„Willow! Willow!“, brüllt er weiter, während ihn die Männer zu Boden ringen und ein dritter Security-Mann mir die Hand auf die Schulter legt und mich von der Bühne bringt.
Einen Tag später:
Als Gast der PromiNews sitze ich dem Moderator Rumor Chapman gegenüber und warte darauf, dass die Show beginnt. Angestrengt starre ich in das helle Licht der Lampen über uns, bis mir Tränen in die Augen treten. Ich hole einen kleinen Handspiegel hervor und überprüfe mein Gesicht. Ja, das sieht wirklich sehr bedauernswert aus. Ich übe ein kleines, niedergeschlagenes Schluchzen. Die ganze Welt soll schließlich sehen, wie sehr Willow Hutson unter diesem schrecklichen Vorfall von gestern leidet. Auf keinen anderen Weg kann man besser Sympathiepunkte sammeln. Zufrieden klappe ich den Spiegel wieder zu und bemerke, wie mich Chapman beobachtet und die Augenbrauen hochzieht. Ich lächle unschuldig.
„Wir gehen live in neun, acht …“, ruft irgendein Kameramann.
Ich schlage die Beine übereinander und richte mich auf meinem Stuhl auf.
„Meine Damen und Herren, mein Name ist Rumor Chapman. Ich begrüße Sie zu PromiNews. Heute haben wir einen ganz besonderen Gast: Willow Hutson!“
Ich strahle in die Kamera. Ach, verdammt, ich wollte ja bedauernswert aussehen. Sofort verblasst mein Lächeln wieder und verwandelt sich in ein mutloses Seufzen.
Chapman legt mir seine Hand auf die Schulter. „Willow, wir alle können uns kaum vorstellen, was in dir vorgeht. Ich denke nicht, dass es jemanden da draußen gibt, der noch nicht von diesem furchtbaren Ereignis von gestern gehört hat, aber wäre es in Ordnung, wenn ich die Videoaufnahme davon zeige? Kann ich dir das zumuten?“
Ich nicke tapfer und eine Videoaufnahme davon, wie dieser Harald Hanfstängel auf die Bühne gerannt kommt, wird eingeblendet. Währenddessen reicht mir Chapman ein Taschentuch und ich trockne meine Tränen. Der Film stoppt in dem Moment, als zu sehen ist, wie mir das Kleid hinten aufplatzt.
Chapman schüttelt fassungslos den Kopf. „Meine Damen und Herren, das ist das Bild, das wohl auf jeder Titelseite unter der Überschrift Verrückter versucht, Willow Hutson öffentlich zu vergewaltigen zu sehen ist. Ich möchte einen kurzen Ausschnitt aus der New York Times vorlesen:“
Ich weiß nicht, was es ist, aber irgendetwas an Chapmans Blick stört mich. Ich schiebe den Gedanken beiseite. Das habe ich mir sicher nur eingebildet.
„Willow Hustons Konzert hat kaum begonnen, als der Fan Harald H. auf die Bühne stürmt. Die Security kommt zu spät. Harald H. schafft es, Willow Hutson in seine Gewalt zu bringen und beginnt, ihr das Kleid vom Leib zu reißen. Willow Hutson, halb entkleidet, in Schockstarre, als der rasende Mann von mehreren Security-Männern zu Boden gerungen wird.“
Ich kann mich kaum davon abhalten, zu schmunzeln, als ich wieder die Geschichte vom kleiderzerstörenden Vergewaltiger höre, die in allen Zeitungen steht. Ich kann mein Glück nicht glauben, dass die Hand von diesem Harald Hanfstängel genau so liegt, dass es aussieht, als hätte er mein Kleid zerrissen. Mein Mitleid hält sich in Grenzen. C’est la vie, mein lieber Harald.
„Erzähl uns: Was hast du in diesem Moment gefühlt?“
„Ich war unfähig, irgendetwas zu fühlen. Es war, als hätte ich dem Tod ins Auge geschaut. Ich wusste ja nicht, ob die Security-Männer schnell genug sein würden. So knapp einer Vergewaltigung zu entkommen, das verändert einen, wissen Sie.“
Ich blicke Chapman tief in die Augen und lege meine Hand auf die Brust.
„Hier drin. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um allen Frauen auf der Welt Mut zu machen. Frauen, wehrt euch gegen Unterdrückung! Ich habe es geschafft und so werdet ihr es auch schaffen! Glaubt an euch!“
Chapman nickt und nimmt meine Hände. „Willow, das war wirklich schön. Wirklich schön. Es war sicher ein Schock für dich, als dieser Verrückte versucht hat, dich zu entkleiden?“
Ich schluchze. „Ja, das war es. Das war es.“
Chapman lacht. Warum lacht er? Ich blinzle verwirrt.
„Meine Damen und Herren, nun noch einmal das ganze Video in Zeitlupe. Schauen Sie genau hin!“, sagt Chapman.
Ich springe auf. „Was soll das? Ich, ich ertrage es nicht, das noch einmal zu sehen! Stoppen Sie das! Sofort!“
Doch Chapman lacht nur belustigt in sich hinein und ich muss in Zeitlupe mitansehen, wie mein Kleid aufplatzt. Es ist ganz deutlich, dass Hanfstängel nichts anderes macht, als mich kurz festzuhalten und dann vor mir auf die Knie zu gehen. Ich schlucke.
„Das ist also die Vergewaltigung, der Willow Hutson so knapp entgangen ist!“, sagt Chapman und klopft mir auf die Schulter. „Meine liebe Willow, ich würde sagen, eine Entschuldigung an diesen Harald ist angebracht! Du hast deinen größten Fan vor aller Öffentlichkeit beschuldigt!“
„Aber, er … kam auf die Bühne, er … er hat mich von der … Schaukel gezerrt!“, stottere ich.
Chapman setzt einen gespielt bedauernden Gesichtsausdruck auf. „Und dein Kleid hat er auch zerrissen, richtig?“
Ich schweige, während die Kameramänner mit Mühe ein Lachen unterdrücken.
„Unverschämtheit! Eine Unverschämtheit!“, ist das Einzige, was mir einfällt. Ich drehe mich um, werfe mein Haar über die Schultern und verlasse erbost den Raum.
„Willow, ich würde sagen, du wirst einfach zu fett!“, ruft mir Chapman hinterher.
Ich knalle die Tür zu, doch sein Lachen verfolgt mich bis auf den Gang.
Eine Woche später:
Seit Tagen schüttet die Internetcommunity, ein rasender Mob, kübelweise Häme über Willow Hutson aus. Dieses Schreiben richtet sich an alle, die diese furchtbaren Kommentare über Willow Hutson geschrieben haben und somit an diesem digitalen Vernichtungsfeldzug mitgewirkt haben:
Mein Name ist Paris, Paris Aiuto. Ich glaube nicht, dass mich irgendjemand von euch kennt, doch ich schätze, ich liege richtig, wenn ich mich als Willow Hutsons beste Freundin bezeichne, wenn man bedenkt, dass Willow generell keine Freunde hat.
Ich bin schon lange Zeit Willows Stylistin und habe sie schon viele ihrer Angestellten feuern sehen. Ich allerdings durfte immer bleiben. Warum? Weil die einzige Meinung, die Willow hören will, ihre eigene ist. Und ich habe genau das getan: Ihr immer zugestimmt, ihr immer beigepflichtet. Nur so überlebt man in Willow Hutsons Welt.
Ich tue das hier nicht für Willow, ich tue das für mich. Ich kann nämlich nicht länger schweigen und mitansehen, was zurzeit um Willow herum passiert. Obwohl ich das ungute Gefühl habe, aufgrund dieser Aktion bald schon arbeitslos zu sein.
Wo soll ich anfangen? Ich erinnere mich daran, wie stark sie das Internet verehrt hat, denn das sei es, was sie groß gemacht hätte, was ihrem Leben erst einem Sinn gegeben hätte. Sie liebte die digitale Welt. Ich denke, nachdem sie gesehen hat, wie leicht das Internet seine Schöpfung, den großen Star Willow Hutson, auch wieder zerstören kann, ist ihre Begeisterung für das Internet verflogen.
Wir alle haben miterlebt, wie Willows mit viel Arbeit und Mühe erbautes Kartenhaus vor ein paar Tagen am Abend der PromiNews-Show in sich zusammenfiel. Doch es war nicht Rumor Chapman, der es zum Einsturz brachte. Es war der Shitstorm, der kurze Zeit darauf ausbrach und den ihr immer weiter angefeuert habt. Wahrscheinlich hat sie es sogar verdient. Dafür, dass sie in ihrer eigenen Welt lebt und die meisten um sich herum wie Dreck behandelt. Wer braucht schon echte Freunde, wenn man nur genügend Follower hat? Wer gibt euch aber das Recht, sie auf die Art und Weise, wie ihr es getan habt, zu kritisieren. Aus euch spricht der blanke Hass, die reine Wut und dabei kennt ihr keine Grenzen. Kein Mensch, auch keine Willow Hutson, hat eure Hybris verdient.
Ich habe alles hautnah miterlebt. Als sie am Abend der Show zurückkam, brüllte sie mich an, ich solle verschwinden, und schloss sich dann in ihrem Zimmer ein. Ich hörte von drinnen ein Schluchzen. Es war das erste Mal, dass ich erlebte, dass Willow Hutson weinte. Am nächsten Tag hatte sie scheinbar ihre Fassung zurückgewonnen. Mit dunklen Ringen unter den Augen, doch wieder guten Mutes, kam sie in aller Herrgotts Frühe in mein Schlafzimmer gestapft und sagte mir, ich solle sie wieder herrichten, denn heute sei ein neuer Tag. Sie glaubte wohl, die Menschen da draußen hätten das gestrige Ereignis einfach vergessen. Vielleicht hatte sie es auch einfach nur verdrängt, weil sei es selbst nicht wahrhaben konnte, dass ihr, der großen Willow Hutson, so etwas Erniedrigendes passiert war. Wer weiß. Jedenfalls nahm sie, als wäre nichts geschehen, wie jeden Morgen ihr Handy in die Hand und stellte ein Bild von sich auf Instagram, wie sie sich genüsslich über einen Frühstücksdonut hermachte, während ich ihr das Haar frisierte.
Wie sich zeigen sollte, war das keine gute Idee.
Kurze Zeit später kam schon der erste Kommentar:
Bist eh schon zu dick, dass du nicht mehr in dein Kleid reinpasst, da stopfst du auch noch einen Donut in dich hinein.
Willow war geschockt. Sie war es nicht gewohnt, negative Kritik zu erhalten. Doch sie zwang sich zu einem Lachen und sagte: „Ach, so ein Spinner, der sagt mir gar nichts.“
Doch es blieb nicht bei einem Kommentar. Bald schon nahmen sie ein ganz anderes Ausmaß an und Willow las nun Dinge wie: Kein Wunder, dass der fetten Kuh das Kleid aufgeplatzt ist. Bei den Schwabbelwaden, ein Wunder, dass sie sich überhaupt noch auf die Bühne getraut hat.
Es dauerte nicht lange, da wurden Seiten wie WillowIsABitch oder WillowHutsonIsFat erstellt. Ein Auszug aus der WillowIsABitch-Seite: Hoch lebe Rumor Chapman! Endlich mal jemand, der dieser Schlampe in den Arsch tritt und sie von ihrem hohen Ross runterholt. Diese Lügnerin soll in das dreckige Loch zurück, aus dem gekommen ist!
Und das gehört noch zum Harmlosesten.
Ich sehe es immer noch deutlich vor mir, wie Willow ganz regungslos dasaß und fassungslos in die Ferne starrte. Dann hob sie den Kopf und fragte mich langsam:
„Paris, denkst du, ich bin zu dick? Die ganze Welt hasst mich, richtig?“
Ich verneinte natürlich, doch Willow hatte nie viel Wert auf meine Meinung gelegt. Sie schaute sich im Spiegel an und flüsterte immer wieder vor sich hin:
„Ich bin zu dick, stimmt’s? Alle hassen mich, ich …“ Plötzlich nahm sie ihre Haarbürste, schleuderte sie gegen den Spiegel und unzählige kleine Scherben fielen auf den Schminktisch. Sie stand wortlos auf, ging in ihr Zimmer und knallte die Tür zu. Ich habe sie nie so aufgebracht erlebt.
Sie sitzt jetzt seit drei Tagen in ihrem Zimmer.
„Mach dir keine Sorgen, Paris. Willow, die kann doch mit so was umgehen“, sagte gestern Thomas, ein Freund, zu mir. „Sie hat doch noch nie wegen des Kommentars irgendeines Idioten an ihrer Figur gezweifelt.“
Ich deutete auf die Teller, die unberührt vor Willows Zimmer stehen. Sie hatte seit zwei Tagen nichts gegessen. „Ja, nicht wegen einer einzelnen Beleidigung, Thomas. Aber so viele Menschen, die dir erzählen, dass die ganze Welt dich hasst, dass du hässlich und fett bist … Darunter bricht irgendwann sogar das Selbstbewusstsein einer Willow Hutson zusammen“, sagte ich zu Thomas.
Es ist schrecklich, was im Internet über Willow kursiert, zu respektlos, zu unfair, um es hier zu zitieren. Ich sage euch: Es ist mir nur recht, wenn Willow für ihren Charakter oder die Art und Weise, mit Mitmenschen umzugehen, kritisiert wird. Doch nicht so. Ich lese in den Kommentaren Schimpfwörter, deren Existenz ich noch nicht einmal geahnt habe. Und ich denke, diese Art der Behandlung hat niemand verdient. Ich wette, die wenigsten von denen, die die bösartigen Kommentare geschrieben haben, hätten es fertiggebracht, diese zu Willow persönlich zu sagen. Doch das Internet dient als Maske, hinter der sich jeder verstecken kann. Ich habe Angst davor. Und ich denke, jeder sollte das. Ihr glaubt, euch kann so etwas wie Willow nicht passieren? Ihr seid ja viel zu beliebt und so etwas würden eure Mitmenschen euch nicht antun? Ich sage euch etwas: Willow Hutson war auch beliebt, denn für ihre Fans spielte sie die perfekte, die freundliche Willow. Sie war ein Weltstar. Alle liebten Willow. Und doch, im Internet habt ihr sie wie hungrige Wölfe zerreißen können.
Jetzt tun alle so, als hätte die böse Willow das arme, unschuldige Opfer Harald Hanfstängel zu Unrecht beschuldigt. Aber, ich meine, er ist ja auf die Bühne und hat sie wirklich bedrängt. Tatsachen werden einfach verdreht.
Und ich will betonen: WILLOW HUTSON IST NICHT DICK! Selbst, wenn sie es wäre, wer gibt euch dann das Recht, sie zum Abschuss freizugeben?
Ich weiß nicht, wie es mit Willow weitergeht. Wird sie aus ihrem Zimmer wieder herauskommen? Ich weiß es nicht. Ist Willows Karriere jetzt vorbei? Keine Ahnung. Der hellste Stern hat wohl doch zu hell geleuchtet, hat jemand auf der WillowIsABitch-Seite geschrieben. Ich weiß, dass es Willow sehr schlecht geht, und hoffe nur, dass sie aus der ganzen Sache gelernt hat. Und das hoffe ich für uns alle auch.
Eure Paris
Ich lasse mein Handy aufs Bett fallen und blicke mich im Spiegel an. Paris hat recht, ich fühle mich beschissen. Ich sehe beschissen aus. Mit allem hat Paris Recht. Ich streiche mir ein paar Mal durch die Haare und atme durch, bevor ich langsam die Zimmertür öffne.
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Reuchlin Gymnasium
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