Aus dem Takt (Milena Nardozza)

Schanzer Schreibwettbewerb für Schülerinnen und Schüler 2021:

Wunder gibt es immer wieder …

Aus dem Takt
von Milena Nardozza, Q12 im Schuljahr 2020/2021

Estelle Mireille
„Hast du deine Tasche schon gepackt, ma chérie?“ Die Stimme meiner Mutter Colette drang durch die geschlossene Zimmertür. Genervt rollte ich mit den Augen und zog die Decke noch weiter über meinen Kopf. Heute war der Tag, den ich immer hasste. Der Tag, an dem ich wieder fortmusste. Doch diesmal konnte uns keiner sagen, wie lange ich bleiben musste.

Frustriert verkroch ich mich immer weiter in meinem Kokon aus Decken, als meine Mutter an der Tür klopfte, weil sie immer noch auf eine Antwort auf ihre Frage wartete.

„Estelle?“

Ich blieb stumm.

„Estelle?“ Zaghaft drückte Colette die Klinke herunter. Nichts. Die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie meine Mutter stutzte, und schnell wurde das sanfte Rütteln deutlich energischer und schließlich vermischte sich das Klappern der Klinke mit dem Hämmern an Holz und dem Rufen meiner Mutter.

„Estelle Mireille, du öffnest jetzt sofort diese Tür, haben wir uns verstanden? Estelle? Mach auf, und zwar sofort!“ Ihrem Brüllen folgte weiteres Rütteln.

„Geh weg, Maman“, nuschelte ich gedämpft unter den Decken. Meine Mutter hatte mich entweder nicht gehört oder aber sie ignorierte mich gekonnt, und da ich sie kannte, tippte ich eher auf Letzteres.

„Clement!“ Jetzt rief sie offensichtlich meinen Vater zur Unterstützung.

„Estelle hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen! Clement! Hilf mir!“ Geradezu panisch riss meine Mutter mittlerweile an der Klinke. Ich bekam fast ein schlechtes Gewissen und schielte aus meinem Versteck hervor. Da ich keinen Schlüssel für mein Zimmer hatte, hatte ich improvisieren müssen. Dazu hatte ich meine letzten Kräfte gesammelt und mühsam die kleine Kommode vor die Tür geschoben. Es war albern, das wusste ich, aber ich wollte wenigstens einmal meine Ruhe haben, ohne dass meine überfürsorgliche Mutter, wann immer sie wollte, in mein Zimmer stürmen konnte.

„Estelle, das ist gefährlich. Mach jetzt sofort auf. Sofort!“ Inzwischen war mein Vater dazugekommen und dachte wohl, ich würde auf seine Aufforderungen eher hören als auf die meiner Mutter.

„Schatz, ich weiß, du hast Angst und du willst nicht schon wieder ins Krankenhaus, aber du kennst doch die Alternative“, versuchte es mein Vater nun etwas gefühlvoller. Ich seufzte und mein ohnehin schon schwaches Herz wurde mir ganz schwer. Es war nicht fair. Meine Eltern litten mindestens genauso unter der Situation, zwar auf eine andere Weise, aber nicht minder schlimm.

Gerade als sich meine beiden Eltern gegen die Tür stemmten und die Kommode sich schon zu bewegen begann, entschied ich, meinen unsinnigen Protest aufzugeben, und kam widerwillig aus meinem Kokon hervorgekrochen. Als ich die Beine über die Bettkante schwang und mich gerade erheben wollte, überkam mich plötzlich ein heftiger Schwindel und ich kippte wieder zurück auf das Bett. Gleichzeitig wurde mir eng in der Brust und das Atmen fiel mir unsagbar schwer. Panik überkam mich. Obwohl ich dieses Gefühl kannte, wurde es nicht einfacher zu ertragen. Meine Mutter konnte mittlerweile durch einen kleinen Spalt in mein Zimmer sehen, und ich sah das Entsetzen in ihren himmelblauen Augen wachsen, als sie mich umfallen sah.

Elijah

Meinen kleinen Koffer in der einen und meine kleine Schwester Bria an der anderen Hand, kämpfte ich mich durch die Menschenmassen am Flughafen. Wir waren spät dran, deshalb war mein Vater schon mal vorgelaufen, um Bescheid zu geben, dass wir gleich nachkommen würden. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten wir dann endlich unser Gate, wo mein Vater gerade dabei war, mit einer Stewardess zu diskutieren.

„Ah, da kommen sie ja schon!“, hörte ich ihn rufen und sah, wie sich die Erleichterung in seinen Zügen ausbreitete. Die Flugbegleiterin sah uns genervt entgegen, und als wir bei den beiden ankamen, streckte sie kommentarlos ihre Hand in einer ungeduldigen Geste nach mir aus. Verwirrt blickte ich sie an.

„Dein Koffer. Ich muss kontrollieren, ob er nicht zu schwer ist“, erklärte sie und die Aggressivität in ihrer Stimme ließ mich ins Stolpern geraten. Schnell reichte ich ihr mein Handgepäck, während sie ihr Maßband und die Kofferwaage zückte.

„Zweihundert Gramm zu viel“, erklärte sie mit einem diabolischen Funkeln in den Augen. Ich stöhnte und riss hektisch an dem Reißverschluss herum, bevor ich mich über den Koffer beugte und mich zu entscheiden versuchte, was von den Dingen darin hierbleiben konnte. Ich entschloss, in Frankreich auch mit zwei Paar Unterhosen und Socken weniger zurechtzukommen, und warf die Kleidungsstücke in den nächstbesten Mülleimer. Gerade als ich wieder an dem Verschluss herumzuppelte, griff die Stewardess auch schon nach dem Koffer. Schließlich brummte sie etwas, das sich nach „Jetzt passt’s!“ angehört hatte, und scheuchte uns dann in die Richtung des Flugzeugs. Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, aber ich hatte das Gefühl, die anderen Passagiere würden uns böse anstarren, als wir es endlich ins Innere geschafft hatten und unsere Plätze einnahmen. Sobald ich saß, kramte ich in meiner Hosentasche nach meinem Handy. Ich musste unbedingt checken, ob Telly mir geschrieben hatte. Heute musste sie wieder ins Krankenhaus für eine weitere Operation, und ich hatte sie vorher gefragt, wie sie sich fühlte, doch bis jetzt hatte sie noch nichts geantwortet. Ich begann mir langsam Sorgen zu machen. Wir hatten uns vor zwei Jahren auf Instagram kennengelernt und seitdem jeden Tag miteinander geschrieben. Einer von Tellys Posts über meine Lieblingsband hatte meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es war eine Kritik zu deren neustem Song. Telly konnte dem Lied nichts abgewinnen und verurteilte es als das schlechteste der Band. Zufällig war das genau der Song gewesen, den ich mitgeschrieben hatte. Nachdem ich unter ihrem Beitrag kommentiert hatte, dass ich zutiefst enttäuscht darüber war, dass ihr das Lied nicht gefiel, und dass ich mir ihre Kritik für das nächste Mal zu Herzen nahm, waren wir ins Gespräch gekommen. Sie hatte sich zu Beginn förmlich entschuldigt, falls ihre Worte meine Gefühle verletzt hatten, blieb jedoch ihrer Meinung treu, dass ihr Melodie und Text nicht zusagten. So hatte unsere Freundschaft angefangen.

„Elijah?“ Die goldenen Augen meiner Schwester sahen mich abwartend an. Es war wirklich faszinierend, wie sich das Licht der Sonne in ihrer Iris sammelte und dieser die Farbe von flüssigem Honig verlieh. Ich sollte ein neues Stück darüber komponieren. Auch wenn das nicht meine größte Stärke war, laut Telly, konnte ich dennoch die Mathematik hinter den Notenfolgen einfach durchschauen.

„Elijah!“ Energisch trat mir Bria gegen das Schienbein.

„Ich hab’ dich was gefragt.“ Sie funkelte mich an, und ich versuchte mich zu erinnern, was sie gefragt hatte. Zerknirscht sah ich sie an.

„Tut mir leid, was hast du gesagt?“

„Ob du vorhast, dich mit Telly zu treffen, jetzt wo ihr im gleichen Land seid?“

Estelle Mireille

Ich wollte etwas sagen, doch die Worte erreichten meine Lippen nicht. Erschrocken riss ich die Augen auf. Da erinnerte ich mich. Mittlerweile machte es mir nicht mehr so viel aus, aber ich weiß noch genau, als sie mich das erste Mal intubiert hatten. Nein, das stimmt nicht, das war das zweite Mal gewesen. Beim ersten Mal war ich noch keine Minute alt gewesen, als die Ärzte schon handeln mussten. Es war sowieso ein Wunder gewesen, dass meine Mutter mich damals lebend geboren hatte. Kein Arzt hatte daran geglaubt, dass ich lange überleben werde. Wunderkind haben sie mich genannt. Als ich zur Welt kam, mussten meine Eltern feststellen, dass ich einen unerkannten angeborenen Herzfehler hatte und meine linke Herzhälfte demnach unterentwickelt war. In den ersten Monaten hatte ich vielversprechende Operationen, doch vor etwa zwei Jahren hatte sich mein Zustand wieder verschlechtert. Die einzige Möglichkeit, mein Leben langfristig zu retten, ist jetzt nur noch, ein passendes Spenderherz zu finden. Bei den Routineuntersuchungen letzte Woche hatte uns mein Arzt dringend empfohlen, dass ich mich, bis sie ein Herz für mich gefunden hatten, in stationäre Behandlung begeben sollte. Das würde meine Überlebenschancen etwas erhöhen, meinte er.

„Ma chérie, keine Angst, wir sind bei dir, es ist alles gut.“ Die sanfte Stimme meiner Mutter drang an meine Ohren und kämpfte die wachsende Panik in mir nieder. Dann schob sich Colettes blasses Gesicht in mein Blickfeld.

„Mach das nie wieder“, flüsterte sie, und in ihren hellen Augen sah ich unendliches Leid und die Sorge um mich.

Meine Sicht klärte sich langsam und allmählich konnte ich den sterilen Raum genauer erkennen, in dem ich mich befand. Mein Vater war ebenfalls da und legte gerade eine Hand auf den Rücken meiner Mutter und strich ihr beruhigend darüber. Auch in seinen Zügen konnte man die Anspannung und Angst erkennen und es schien, als er sei er in den letzten Stunden um Jahre gealtert. Zudem zeigten die steilen Sorgenfalten auf seiner Stirn und die grauen Schläfen jedem, dass die letzten Jahre ihren Tribut gefordert hatten.

„Estelle, erinnerst du dich, was passiert ist?“, fragte Clement mit ruhiger Stimme. Auch wenn in seinem Inneren ein Sturm tobte, schaffte er es immer, gefasst und beherrscht zu bleiben.

Angestrengt versuchte ich nachzudenken, doch die letzten Stunden wollten nicht wiederkommen. Das schlechte Gewissen überkam mich und schwappte über mich wie eine riesige Welle. Ich konnte mir denken, dass die Situation kein Spaß gewesen war. Mein kindisches Verhalten war ziemlich riskant gewesen, denn ich wusste über meine derzeitige Verfassung sehr gut Bescheid.

„Nachdem du bewusstlos geworden bist, haben wir die Sanitäter gerufen, doch als sie ankamen, hatte dein Herz schon aufgehört zu schlagen und du hast nicht mehr geatmet. Sie mussten dich reanimieren. Du stehst jetzt ganz oben auf der Liste, aber der Oberarzt meinte, dass niemand weiß, wann sie das nächste passende Spenderherz haben.“

Eine einzelne Träne rann meine Wange herunter, und hätte mein Körper es zugelassen, hätte ich so laut geschrien und geweint, dass man mein Gebrüll bis in den Keller des Krankenhauses hätte hören können. Es war so unfair. Ausgerechnet jetzt. Ich würde in wenigen Tagen achtzehn werden und für diesen Tag hatte ich etwas ganz Besonders geplant. Besser gesagt, wir hatten etwas ganz Besonderes geplant. Nur einmal wollte ich wie alle anderen Teenager sein.

Elijah

„Ja, Telly hat übermorgen Geburtstag. Heute wird sie zwar wieder ins Krankenhaus eingewiesen, aber ihre Eltern und Ärzte waren einverstanden, dass wir den Tag gemeinsam verbringen könnten.“

„Oh je, muss sie wieder operiert werden?“ Traurig sah mich meine Schwester an. Bria wusste um Tellys Gesundheitszustand und es versetzte mir einen Stich, als ich die Angst in ihrem Blick sah. Es war die gleiche Angst, die schon seit Tagen in meinem Inneren wohnte. Hastig schluckte ich den Kloß in meinem Hals herunter und lächelte Bria krampfhaft an.

„Ach, das ist keine große Sache, mach dir keine Sorgen“, versuchte ich sie zu beruhigen, obwohl meine Worte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein konnten. Ich wusste, dass es an ein Wunder grenzen würde, wenn Telly geholfen werden könnte.

„Jetzt konzentrieren wir uns erstmal auf die Konferenz und das Benefizkonzert. Ich hab’ gehört, dass im Anschluss ein Buffet ausgerichtet wird, das als Highlight der ganzen Veranstaltung gilt. Es soll sogar einen Schokoladenbrunnen geben“, versuchte ich vom Thema abzulenken. Doch Bria nickte nur und wandte sich dem kleinen Fenster neben sich zu. Ich seufzte in mich hinein und steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren. Die nächste halbe Stunde ließ ich mich von den harmonischen Klängen und Beats meiner Lieder wegtragen. Kurz bevor ich von dem Strudel aus Noten in einen ruhigen Schlaf gezogen werden konnte, riss mich ein sanftes Tippen an meiner Schulter aus meinem tranceartigen Zustand. Erschrocken richtete ich mich auf.

„Entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören.“ Verlegen sah mich ein älterer Herr an. Neben ihm stand ein Mädchen, es musste etwa um die vierzehn Jahre alt sein.

„Es ist nur so, ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit und meine Tochter ist ganz begeistert von Ihrer Musik. Ich habe auch schon Karten für die Konferenz morgen gekauft und freue mich wahnsinnig auf Ihren Vortrag …“, ereiferte sich der Man in einem Versuch, sein aufdringliches Verhalten zu erklären. Jedoch wurde er in seinen Ausschweifungen jäh durch den Fußtritt seiner Tochter unterbrochen, die ihn böse anfunkelte.

„Papa, ich glaube nicht, dass Elijah das interessiert“, murmelte sie peinlich berührt und sah zu ihren Füßen.

„Du hast recht, mein Schatz, bitte entschuldigen Sie!“ Der Arme lief puterrot an und ich bekam auf einmal Mitleid mit ihm.

„Schon gut. Kann ich etwas für Sie tun? Soll ich Ihnen ein Autogramm schreiben?“, bemühte ich mich, die Situation weniger unangenehm für alle Beteiligten zu machen. Ich hasste es, in der Öffentlichkeit angesprochen zu werden. Aber so war es nun mal, wenn man ein mathematisches und musikalisches Genie und deshalb international bekannt war. Angefangen hatte es damit, dass ich im Alter von drei Jahren mein erstes Musikstück komponiert hatte. Ab dem Zeitpunkt hatte es nicht lange gedauert, bis man sich sicher sein konnte, dass ich ein „Wunderkind“ war. Gott, wie ich das Wort verabscheute.

„Ähm, also, wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich wäre geehrt, wenn ich ein Autogramm bekommen könnte und ich bin mir sicher, meine Tochter würde sich riesig über ein Foto freuen“, druckste der Mann herum. Ich schenkte den beiden ein schiefes Lächeln und kam ihren Wünschen nach. Was mich mehr als erstaunte, war die Tatsache, dass der Mann sogar eine richtige Autogrammkarte von mir bei sich hatte. Auf meinen fragenden Blick hin, erklärte er mir gleich, dass er vorgehabt hatte, mich auf der Konferenz anzusprechen, und sie deshalb besorgt hatte. Verständnisvoll nickte ich und war insgeheim sprachlos, also mir bewusstwurde, wie viele Menschen von meinen Namen kannten. Mich schauderte.

Estelle Mireille

„Ach, Estelle. Nicht weinen.“ Colette strich mir liebevoll die Träne von der Wange und schenkte mir ein trauriges Lächeln.

„Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie ein passendes Herz für dich finden.“

Doch wir alle wussten, wie unwahrscheinlich es in Wirklichkeit war, denn mir blieb nicht mehr viel Zeit, das wurde mir gerade klar. Und dass meine Eltern es auch verstanden hatten, konnte ich in ihren Gesichtern sehen.

„Es tut mir so leid.“ Die Stimme meiner Mutter brach und ein Schluchzen kämpfte seinen Weg nach oben. Hastig wandte Colette sich ab und eilte mit einer Hand auf den Mund gepresst aus dem Zimmer. Ich hätte ihr gerne etwas nachgerufen, aber der Schlauch in meinem Hals raubte mir die Möglichkeit dazu. So konnte ich ihr nur nachsehen und den Schmerz fühlen, der in jede Zelle meines Körpers vorzudringen schien.

„Ma chérie, vergib deiner Mutter, dieser Tag war einfach zu viel für ihre Nerven. Sie braucht nur etwas Ruhe, um ihre Gedanken zu sortieren“, meinte mein Vater und setzte sich neben mein Bett. Er öffnete gerade den Mund, um noch etwas hinzuzufügen, als es an der Tür klopfte. Kurz darauf steckte mein Lieblingsarzt, Dr. Guillaud, den Kopf herein.

„Ah, Estelle, wie ich sehe, bist du wieder aufgewacht, das freut mich. Ich wollte eben etwas mit deinen Eltern besprechen, aber nachdem du wach bist, möchtest du bestimmt auch zuhören.“ Dr. Guillaud trat ein und reichte mir einen Block samt Kugelschreiber, damit ich indirekt am Gespräch teilnehmen konnte.

„Sollen wir noch auf Ihre Frau warten?“, fragte der Arzt an meinen Vater gewandt, als ihm auffiel, dass Colette fehlte.

„Nein, fangen Sie ruhig schon an“, verneinte dieser höflich.

„In Ordnung. Also, wie ich deinen Eltern vorhin schon mitgeteilt habe, bist du seit heute an oberster Stelle der Warteliste für Patienten deines Alters. Das ist notwendig, da dein Herz …“

Dr. Guillaud redete und redete. Alles, was ich heraushörte, waren Dinge, die ich sowieso schon wusste. Dass mein Herz langsam aufgab. Dass mir nicht mehr lange blieb. Dass ich hierbleiben musste, bis man ein Spenderherz fand. Oder falls nicht, bis ich starb. So direkt sagte er das zwar nicht, aber ich wusste genau, dass dem so war. Irgendwann schweiften meine Gedanken ab. Weg von dem medizinischen Horror, der mir hier drohte und hin zu Elijah. Zu dem Jungen, der mir in den letzten Jahren der größte Halt gewesen war. Und zu dem Tag, den ich mir als wohl schönsten meines Lebens ausgemalt hatte. Eigentlich machte ich mir nicht viel aus meinen Geburtstagen, aber dieser wäre anders geworden. Nach zwei Jahren hätte ich Elijah endlich in Person getroffen. Wir hätten ein Picknick beim Eiffelturm gemacht, wären abends erst ins Kino und dann zum Essen in ein schickes Restaurant gegangen. Das klang vielleicht nach einem einfachen Date und nichts Besonderem, aber für mich wäre es das erste Mal gewesen, dass ich so etwas tat. Mein Leben lang hatten meine Eltern mich von zuhause aus unterrichtet. Die einzigen Freunde, die ich hatte, hatte ich über das Internet kennengelernt. Getroffen hatte ich nur wenige in echt. Meistens blieb der Kontakt bei Videoanrufe und Telefonaten. Bei Elijah wäre es endlich anders gewesen.

„Estelle? Hast du noch Fragen an mich?“ Die dunklen Augen von Dr. Guillaud sahen mich abwartend an. Normalerweise war er immer zum Scherzen aufgelegt und man konnte viel Spaß mit ihm haben. Heute jedoch wirkte er angespannt und war ungewöhnlich ernst. Daran konnte ich erkennen, wie schwierig die Situation war.

Trotzdem musste ich es einfach fragen. Mit zittrigen Fingern versuchte ich meine schwache Hand zu überreden, wenigstens einigermaßen leserliche Buchstaben auf den Block vor mir zu kritzeln. Nur ein einziges Wort schrieb ich, doch sowohl mein Arzt als auch mein Vater wussten, was ich meinte: Elijah?

Elijah

„Bin ich froh, dass wir endlich da sind“, ächzte mein Vater und streckte seine langen Glieder.

„Diese Sitze sind immer viel zu eng“, beschwerte er sich weiter, während wir auf das Gepäck von Bria und meinem Dad warteten, denn ich hatte meine wenigen Kleidungsstücke ja in meinem Handgepäckskoffer verstauen können. Ich schmunzelte nur und wandte dann meine Aufmerksamkeit wieder meinem Handy zu. Telly hatte mir immer noch nicht geschrieben und das ungute Gefühl in meinem Bauch ließ mich immer nervöser werden. Bria bemerkte meine Unruhe und sah mich sorgenvoll an.

„Telly?“, fragte sie. Ich nickte nur und begann auf meinen Lippen herumzukauen.

„Da vorne erspähe ich schon deinen Koffer, Bria. Dieses grüne Ungetüm ist auch kam zu übersehen“, scherzte Dad, der ungefähr so empathisch wie eine Teekanne war und nie mitbekam, wenn jemand angespannt war.

Nach weiteren fünf Minuten kam auch der Koffer meines Vaters in Sicht und wir konnten endlich den Flughafen verlassen.

„Unser Programm ist relativ straff“, erklärte Dad, während wir an einem Taxischild warteten, dass wir abgeholt wurden.

„Sobald wir im Hotel ankommen, müssen wir uns schon für den kleinen Empfang bereitmachen, den dieser Professor Bonnet zu deinen Ehren ausrichtet, Elijah. Dann müssen wir früh schlafen gehen, denn die Konferenz beginnt um neun Uhr, und davor müssen wir noch frühstücken und uns fertig machen. Im Anschluss findet eine Gesprächsrunde statt, wo die Besucher den Sprechern, also unter anderem dir, Elijah, Fragen stellen und eventuell Autogramme bekommen können. Danach gibt es ein großes Bankett …“ Mein Vater war ganz in seinem Element, denn als Eventmanager konnte er sich nichts Schöneres vorstellen, als einen Plan zu erstellen und diesem dann auch zu folgen. Ich dagegen hatte es satt, ständig verplant zu sein. Als würde man mir die Luft zum Atmen nehmen. Die Einzige, die mich in solchen Situationen runterholen konnte, war Telly. Sie war anders als jedes Mädchen, das ich je kennengelernt hatte. Deshalb lie… mochte ich sie ja so. Blöd war nur, dass wir in verschiedenen Ländern lebten.

„Elijah, pass bitte auf, du stehst so nahe an der Straße.“ Der besorgte Blick meines Vaters landete auf mir, und ich verdrehte genervt die Augen. Ich war kein kleines Kind mehr! Ich war achtzehn, verdammt! Die Sache mit Telly und die Tatsache, dass lauter fremde Menschen wieder einmal über meine Zeit verfügen konnten, wie es ihnen gefiel, öffneten einer unbeschreiblichen Wut die Tür in mein Inneres. Ich konnte spüren, dass ich mich einer dieser Momente näherte, in denen ich die Kontrolle über mich verlor. Wo die Wut mein Denken und Handeln beherrschte. Normalerweise würde ich jetzt Telly schreiben, denn sie wusste, was sie sagen musste, um dieses Biest zu zähmen, aber sie hatte mir immer noch nicht geantwortet!

„Elijah? Komm bitte her.“ Dads Stimme wurde eindringlicher und autoritärer. Das stachelte meine Wut nur weiter an und ich ging weiter in Richtung der stark befahrenen Straße. Brias Augen blitzten besorgt auf, denn sie ahnte, was in mir gerade vorging.

„Dad, lass ihn“, versuchte sie die Situation zu deeskalieren, aber mein Dad, dieser empathielose Idiot, erkannte wieder nicht, was gerade vor sich ging.

„Elijah Thomas Gibson, du kommst jetzt sofort hier her und hörst auf, dich wie ein Kleinkind zu verhalten!“ Zornig funkelte er mich an, und dieser Blick entfachte ein Feuer in mir. Ungehalten sprang ich auf die Kante des leicht erhöhten Bordsteins, auf dem wir standen. Einen Augenblick später aber stolperte ich über meinen Fuß und das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich mit rudernden Armen auf die Straße kippe und mich ein heftiger Schlag trifft. Danach wird alles um mich herum dunkel.

Estelle Mireille

Mitleidige Blicke trafen mich, nachdem alle mein Vater und Dr. Guillaud meine krakelige Schrift entziffert hatten.

„Es tut mir leid, Estelle, aber ich denke, du wirst verstehen, dass du in diesem Zustand Elijah wohl besser nicht treffen solltest“, murmelte mein Vater bedrückt. Dr. Guillaud, dem ich vor einigen Monaten von Elijah erzählt hatte, nickte bekräftigend. Ich spürte, wie etwas in mir zerbrach, und es fühlte sich an, als hätte man mein Herz in Flammen gesetzt. Der Herzmonitor neben mir begann aufgeregt zu piepen und Dr. Guillaud warf einen besorgten Blick auf meine Werte.

„Was ist los?“, fragte mein Vater, der mich panisch ansah.

„Nichts Schlimmes, Estelle ist nur sehr mitgenommen, weil sie Elijah nicht sehen kann, das ist eine normale Reaktion“, beschwichtigte ihn Dr. Guillaud. Neben der Verzweiflung wuchs jetzt auch noch ein gewaltiger Zorn in mir darüber, dass Dr. Guillaud meine Gefühle als „normal“ abtat. Das Piepen wurde immer hektischer.

„Estelle, ich weiß, du hast dich auf das Treffen gefreut, aber du musst dich jetzt beruhigen oder du überlastest dein Herz.“ Bittend sah mein Arzt mich an, doch das machte mich nur noch wütender.

„Tun Sie doch etwas!“ Verzweifelt sah mein Vater auf den Monitor. Dr. Guillaud verließ kurz den Raum und kehrte wenige Sekunden später mit einer Spritze in der Hand zurück.

„Das ist ein leichtes Sedativum. Das wird ihr helfen, sich zu beruhigen“, erklärte er meinem Vater. Nicht mir. Es ging ja nur um mich. Ich hasste, wie sie über mich sprachen als wäre ich nicht anwesend.

„Ganz ruhig, Estelle. Gleich wird alles besser.“ Die dumpfe Schwärze, die auf Dr. Guillauds Worte folgte, betäubte meine ganzen Gefühle.

Ich war gerade in einen tiefen Schlaf gesunken, als mich laute Rufe und das hektische Treiben in meinem Zimmer wieder hochschrecken ließen. In diesem Moment kamen Dr. Guillaud und zwei Krankenpfleger durch die Tür gerannt und redeten eindringlich auf meine Eltern ein. Ich war viel zu erschöpft, um die Stimmen zu sortieren und den vielen Wörtern eine Bedeutung zuzuordnen. Die Stimmung in dem Raum lud sich immer mehr auf und mein sonst schwacher Puls begann wieder anzusteigen. Das laute Piepen der Monitore neben mir lenkte schließlich die Aufmerksamkeit der Versammelten wieder zurück auf mich. Sofort kam meine Mutter an meine Seite gelaufen und ihr Gesicht schien förmlich zu strahlen.

„Ma chérie, sie haben ein Herz für dich!“, fiel sie mit der Tür ins Haus. Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung und ihre Augen waren so rund wie Tischtennisbälle. Mein Gehirn war jedoch noch viel zu träge, um diese Information so schnell zu verarbeiten.

„Vor einer halben Stunde wurde uns ein Verkehrsunfall gemeldet. Ein junger Mann, etwa achtzehn Jahre alt, war in einen Unfall verwickelt. Er war auf der Stelle gehirntot, allerdings haben seine Organe nicht viel abbekommen. Das heiß, du bekommst ein neues Herz, und zwar noch heute.“ Dr. Guillaud schien sichtlich erfreut und nicht so, als hätte er gerade den Tod eines jungen Menschen verkündet. Das zeigte mir, wie sehr ich dem jungen Arzt am Herzen lag.

„Hast du das gehört, ma chérie? Ein neues Herz!“ Mein Vater jubelte.

Elijah

Die Farbe Weiß war allgegenwärtig. Die Decke war weiß. Die Lichter waren weiß. Die Wände waren weiß. Alles weiß. Mein Kopf dröhnte. Als ich versuchte, mich aufzurichten, fuhr mir ein scharfer Schmerz durch die linke Schulter.

„Fuck!“, entfuhr es mir. Eine Frau in weißem Kittel eilte sofort an meine Seite.

„Monsieur Gibson, Sie sind wach. Sehr gut. Können Sie mir sagen, welcher Tag heute ist?“

„Ähm, Mittwoch?“, riet ich.

„Können Sie sich erinnern, wie Sie hierher gekommen sind?“

Ich dachte angestrengt nach, und da kamen auch schon die Bilder der vergangenen Stunde auf mich eingestürzt. Mein trotziges Verhalten. Die Wut. Mein Sturz. Das Auto. Danach Schmerzen und Schwärze. Shit.

„Monsieur Gibson?“ Der besorgte Blick der Ärztin traf mich.

„Ja. Ja, ich erinnere mich“, nuschelte ich beschämt.

„Sehr gut. Dann werde ich jetzt Ihre Familie hereinbitte. Ihr Vater ist … sehr besorgt.“ Oh, das konnte ich mir gut vorstellen. Dad war wahrscheinlich komplett ausgerastet und hatte das ganze Krankenhaus zusammengeschrien. Kurz nachdem die Ärztin den Raum verlassen hatte, wurde auch schon die Tür aufgerissen.

„Elijah? Elijah! O mein Gott!“ Das kalkweiße Gesicht meines Vaters starrte mir entgegen. Bria kam direkt hinter ihm in das Zimmer geschlüpft. Sie schluchzte und ihre Augen waren ganz geschwollen.

„Hi, Dad“, murmelte ich.

Bevor dieser auch nur ein Wort sagte, ließ er seinen Blick über meinen geschundenen Körper gleiten, um sich zu versichern, dass ich wirklich noch lebte. Mein linker Arm, musste ich feststellen, steckte in einer Schlinge und war eingegipst. Außerdem hatte ich, den Schmerzen in meinem Kopf nach zu urteilen, eine deftige Gehirnerschütterung. Nichts Lebensbedrohliches also. Mein Vater schien zu demselben Schluss zu kommen, denn im nächsten Moment begann er mit einer Tirade aus wüsten Beschimpfungen, die von äußerst kreativen Vorwürfen abgelöst wurden.

„Dir hätte sonst was passieren können! Was ist nur in dich gefahren! Das war absolut unverantwortlich und dumm! Die Ärzte meinen, es sei ein Wunder, dass du so glimpflich davongekommen bist!“ Mein Dad redete sich geradezu in Rage und hatte kaum Zeit, um nach Luft zu schnappen. Ich ließ alles kommentarlos über mich ergehen, denn ich hielt es für das Beste, einfach den Mund zu halten. Das tat ich viel zu selten. Und außerdem stimmte das, was mein Vater sagte. Nur ein absoluter Blödmann turnte auf einer Kante herum, wenn direkt neben ihm ein Auto nach dem anderen vorbeiraste.

„Du hast recht, Dad. Es tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht. Ich wollte dir keine Sorgen bereiten, bitte entschuldige.“

Mein Tonfall war so ernst und reuevoll, dass mein Dad, der gerade für einen neuen Anlauf an Vorwürfen Luft holte, mitten im Satz stockte. Verwundert und etwas irritiert sah er mich an. Er räusperte sich.

„Schon gut, Elijah. Ich möchte dich nur nicht verlieren. Ich hab’ dich doch lieb, weißt du.“ Verlegen sah mein Vater an die Decke. Ich bekam einen Kloß im Hals, und bevor die ganze Situation zu rührselig werden konnte, rettete uns Bria.

„Wenn das jetzt geklärt wäre und Elijah so etwas nie, nie wieder macht, können wir uns ja jetzt den Vorzügen dieses Krankenhausaufenthalts widmen. Ich hab’ gehört, in diesem Krankenhaus gibt es eine Cafeteria, in der sie die besten Crêpes in ganz Frankreich anbieten. Und nach dem ganzen Schock könnte ich etwas Süßes gebrauchen“, schniefte sie.

Estelle Mireille

Alles ging so furchtbar schnell. Ich hatte noch nicht einmal begriffen, was es bedeutet, dass ich jetzt ein neues Herz bekommen würde, da schoben mich schon zwei Krankenschwestern schon mitsamt den ganzen Geräten und Maschinen, an die ich angeschlossen war, auf den Gang.

„Alles wird gut, mein Schatz, mach dir keine Sorgen. Die Ärzte hier kennen sich aus“, beruhigte mich meine Mutter. Sie war selbst mindestens genauso nervös, versuchte aber, für mich stark zu sein. Ich rechnete ihr das hoch an, denn ich sah die Angst in ihrem Blick. Auch meinem Vater konnte man die Nervosität an der Nasenspitze ablesen. Er hatte seine Hand in einer unbeholfenen Geste an das Metall am Fußende meines Bettes gelegt und folgte mit konzentrierter Miene den Worten des Arztes. Während ich in das Gesicht meines Vaters starrte, machte es auf einmal Klick in meinem Kopf. Ich verstand, dass, sollte ich die Operation nicht überstehen, diese Momente die letzten meines Lebens waren. Dass dieser Augenblick der letzte sein konnte, in dem ich meine Eltern sah. Dass ich nie die Chance bekommen hatte, Elijah in Person zu treffen. Panik machte sich in meinem Inneren breit. Die Hilflosigkeit war so überwältigend, dass sie die Welt um mich herum vollständig in Dunkelheit versenkte, ohne mir die Gelegenheit zu geben, mich von meinen Eltern zu verabschieden.

Elijah

Nachdem wir mit den Ärzten gesprochen und diese auch nichts gegen ein bisschen Bewegung einzuwenden hatten, machte ich mich mit Bria und meinem Dad auf den Weg in die Cafeteria. Mein Vater hatte fürsorglich eine Hand unter meinen Ellbogen geschoben und stütze mich, obwohl das eigentlich gar nicht nötig war. Ich ließ ihn jedoch ohne einen Kommentar gewähren. Das war das Mindeste, was ich nach diesem Schrecken für ihn tun konnte.

Gerade als wir in den Flur traten, wurden wir jedoch gleich wieder von einer Krankenschwester an den Rand des relativ schmalen Gangs gescheuchten, denn im nächsten Moment kam auch schon eine Traube aus Menschen auf uns zu gestürmt. Drei Ärzte, zwei Pfleger und eine Frau und ein Mann, die wie die Eltern der jungen Frau wirkten, die sie in ihrer Mitte auf einem Bett liegend Richtung OP schoben. Schon aus einiger Entfernung konnte ich die aufgeregten Stimmen hören.

„Was ist mit meiner Tochter? Geht es ihr gut? Können Sie sie noch operieren? Sollen wir die Operation lieber abbrechen?“

Die Hand meines Vaters zuckte an meinem Arm, und als ich zu ihm herüberblickte, konnte ich gerade noch den mitleidigen Blick sehen, denn er den Eltern eben zuwarf. Die Ärzte taten ihr Bestes, um die beiden zu beruhigen.

„Estelle hatte eine Panikattacke, aber das ist nicht ungewöhnlich. Die Situation hat sie einfach überrumpelt. Ihre Werte sind jedoch so weit stabil, also machen Sie sich keine Sorgen, wir können die Transplantation trotzdem vornehmen.“

Der Name ließ mich zusammenfahren und mein Herz begann wie wild zu pochen. Angestrengt versuchte ich, das Gesicht des Mädchens zu erkennen, doch noch waren sie zu weit entfernt. Ich fühlte mich, als müsste ich mich gleich übergeben, während ich angespannt darauf wartete, dass sie näherkamen. Konnte das wirklich sein? Konnte sie das sein? Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi. Und dann erreichten sie uns. Mein Herz hämmerte so fest in meiner Brust, dass es mir schon beinahe wehtat. Bevor es einige Takte lang aussetzte. Gebannt starrte ich in das blasse Gesicht der bewusstlosen Frau auf dem Bett.

„Telly? O mein Gott. Telly!“ Ich kannte kein Halten mehr und stürzte auf das vorbeifahrende Bett zu. Da lag sie. Meine beste Freundin. So weiß, wie das Laken unter sich. Mit lauter piependen und blinkenden Apparaten neben sich.

Estelle Mireille

Bum. Bum, bum. Bum. Bum, bum. Kräftige, gleichmäßige Schläge. Diese Geräusche hallten in meinen Ohren wider und weckten mich aus meinem traumlosen Schlaf. Ich musste wohl neben meiner Mutter eingeschlafen sein. Deshalb hörte ich nun ihren Herzschlag. Ich mochte dieses Geräusch. Als ich kleiner war, hatte ich mich oft stundenlang an ihre Brust gekuschelt und einfach diesem gleichmäßigen Pochen gelauscht. Bum. Bum, bum. Immer wieder und wieder. Zufrieden seufzte ich und wollte mich auf die Seite drehen, um weiterzuschlafen. Doch ein dumpfer Schmerz in meiner Brust ließ mich innehalten. Und dann kamen die Erinnerungen auf einen Schlag zurück. Das regelmäßige Herzklopfen war nicht das meiner Mutter. Es war mein eigenes. Ich riss die Augen auf und blinzelte hektisch in das sterile Weiß um mich herum. Das Piepsen des Monitors neben mir wurde lauter und übertönten das Pochen in meinen Ohren.

Eine sanfte Berührung an meiner Hand ließ mich plötzlich innehalten. Ich war nicht allein. Natürlich nicht. Maman saß mit Sicherheit neben mir. Und mein Vater stand bestimmt am Fenster und wartete geduldig darauf, dass ich von der Narkose aufwachte. So war es immer, nachdem ich operiert worden war. Diese Gewissheit beruhigte mich und auch mein neues Herz schlug wieder deutlich langsamer und weniger aufgeregt. Ebenso wurde meine Sicht klarer und ich konnte das Gesicht der Person neben mir deutlicher erkennen.

„Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Telly“, flüsterte da eine tiefe Stimme. Meine Augen wurden groß. Träumte ich noch? War ich doch gestorben?

„Shshsh, du musst nichts sagen. Es ist alles gut. Ich bin hier. Bei dir. Und das bleibe ich auch erstmal.“

Elijahs Worte ließen mein Inneres förmlich strahlen vor Glück. Kein Gefühl der Welt kam je wieder in der Intensität an das heran, das mich gerade durchströmte. Behutsam fuhr Elijah mit seinen Fingern über meinen Handrücken und summte irgendeine Melodie, die mich langsam wieder in einen tiefen Schlaf sinken ließ. Die Nachwirkungen der Narkose machten mich derart schläfrig, dass selbst die übermäßige Freude darüber, Elijah an meiner Seite zu wissen, mich nicht wachhalten konnte. Doch der leichte Druck an meiner Hand gab mir die Gewissheit, dass er seinem Wort treu blieb. Und dieses Versprechen hielt er für den Rest meines Lebens.

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