Miranda (Florian Mändl)

Miranda

von Florian Mändl, Klasse 10b im Schuljahr 2020/2021

gewidmet
all denen, die die kleinen Wunder im Leben übersehen,
obwohl sie sie so bitter nötig haben

„Ein Wunder ist, was absolut unmöglich erscheint und dennoch passiert.“
Griffin, Men in Black 3

Es war ein Freitag wie jeder andere. Dr. Thomas Ernst saß in seinem Büro im zwölften Stock seines neuen Firmengebäudes und klappte seinen Laptop zu. Endlich war das blöde Meeting vorbei! Drei Stunden hatte er sich jetzt das Gerede seiner „Untergebenen“, wie er sie so schön nannte, anhören müssen, wo doch von vornherein klar war, dass sie für seinen – den besten – Vorschlag stimmen würden. Er war einfach das Genie hier! Und als solches hatte er definitiv etwas Besseres zu tun, als sich dieses unqualifizierte Geschwätz anzuhören, als Top-Manager dieser Firma hatte er seine Zeit schließlich nicht gestohlen. Aber das interessierte die Nervensägen ja nicht. War jetzt auch egal, die Zeit war weg und seine Arbeit nicht weniger geworden, im Gegenteil. Nun hatte Thomas erst einmal Hunger, es war bereits halb zwei und die Kantine machte bald zu. Also bloß keine Zeit verlieren, er musste sich beeilen, wenn er planmäßig um sieben Feierabend machen wollte. Wenn das jedoch so weiterging, würde das wohl nichts mehr werden: Kaum war er aus seinem Büro auf den Gang hinausgetreten und unterwegs zum Fahrstuhl, kam ihm schon wieder einer seiner Mitarbeiter, Herr Müller vom Projektmanagement, entgegen und faselte aufgeregt auf ihn ein. „Oh, hallo, Herr Ernst! Gut, dass ich Sie noch treffe. Vorhin habe ich bei Ihrer Sekretärin angerufen, die meinte, Sie seien in einem Meeting und hätten keine Zeit. Ich wollte fragen, ob ich heute etwas früher gehen könnte, meiner Mutter im Pflegeheim geht es nicht gut, sie ist sehr krank und…“ Thomas unterbrach ihn: „Also, zunächst einmal habe ich einen Doktortitel, falls Sie wissen, was das ist. Und zweitens: Nein, Sie können nicht früher gehen. Ich möchte, dass Sie und Ihr Team Ihr Projekt bis heute Abend fertig haben, und vorher macht mir hier niemand Feierabend! Wofür bezahle ich Sie denn sonst?“ „Aber ihr geht es wirklich schlecht…“ „Das ist Ihre Sache, nicht meine. Bevor das Projekt nicht abgeschlossen ist, gehen Sie nicht nach Hause. Wenn Ihnen das nicht passt, können Sie sich ja beschweren.“ Herr Müller wandte sich zum Gehen. „Das werde ich auch tun!“, rief er Thomas noch hinterher. Sollte sich diese Nervensäge doch beschweren! Wer hier Geld verdienen wollte, der sollte dafür arbeiten. Wenn er wegen jeder Kleinigkeit nach Hause gerannt wäre, hätte er es wohl kaum so weit gebracht.

In der Kantine hieß es Schlange stehen. Na großartig, das hatte ihm gerade noch gefehlt! Warum dauerte denn das wieder so lange? Er blickte nach vorne: Dort diskutierte gerade einer der Mitarbeiter energisch gestikulierend mit dem Koch, warum die Portionen so klein seien und die Qualität so nachgelassen habe. Der Koch antwortete, wenn er höhere Zuschüsse für Zutaten bekäme, würde er auch mehr und besser kochen können, aber mit dem bisschen, das der Herr Ernst, dieser Geizhals, noch für die Küche bereit sei auszugeben, könne man nichts machen. Es sei denn, man würde den Preisanteil, den die Mitarbeiter zahlen müssen, erhöhen. – Immer nur Beschwerden! Die sollten froh sein, dass es hier überhaupt noch eine Kantine gab, die Zuschüsse und den Platz könnte man auch besser verwenden. Und wenn ihnen nicht schmeckte, was auf den Teller kam, dann sollten sie sich ihr Essen eben von zu Hause mitbringen! Verärgert scherte Thomas aus der Schlange aus – wobei ihn die anderen Leute, die in der Reihe standen, missmutig anstarrten, da sie ja jetzt wussten, wem sie die „Sparportionen“ zu verdanken hatten – und marschierte auf den Müsliautomaten zu. Ein Riegel musste reichen, auf mehr war ihm der Hunger vergangen.

Kaum war er zurück im Büro, ging es zurück an die Arbeit. Und was war das Erste, was er vorfand? Na klar, eine Beschwerde von Herrn Müller, der ihn vorhin gefragt hatte, ob er früher gehen könne. Er hat sich also krankgemeldet, aha! Na, der konnte was erleben, wenn er sich wieder hier blicken ließ! Der war so gut wie gefeuert, solche Nichtsnutze konnte er hier nicht brauchen.

Einen ganzen Stapel Papierkram, zwei Konferenzen und etliche Telefonate später war der heißersehnte Moment endlich da: Feierabend! Thomas war nicht, wie geplant, um sieben fertig geworden. Das letzte Online-Meeting – es ging spontan noch um das Budget für die Küche (nach einer gigantischen Beschwerdewelle heute Nachmittag) – hatte um einiges länger gedauert. Jetzt hatten sich diese Sturschädel vom Betriebsrat doch tatsächlich durchgesetzt und eine Erhöhung des Zuschusses erwirkt! Thomas war stinksauer, das Wochenende war ihm damit gründlich versaut worden. Was ihn allerdings tröstete, war die Tatsache, dass nun der Vertrag über den Kauf des neuen Grundstückes von der Stadt unterschrieben und damit gesichert war, dass seine Firma dort die neue Fabrik bauen konnte. Es war eine unglaublich knappe Entscheidung gewesen, da dieses Gebiet beinahe als Naturschutzgebiet ausgewiesen worden wäre. Welche Verschwendung bei der guten Lage! Doch er war schneller gewesen und der Vertrag jetzt endlich unter Dach und Fach! Da konnten die Umweltschützer und Anwohner der Gegend noch so viel protestieren – den ganzen Tag waren sie draußen vor der Firma gestanden und hatten gerufen „Unser Wald bleibt stehen!“ – aber die verstanden ja nicht, dass die Fabrik viel wichtiger war als die paar Bäume. Er musste schließlich die Zukunft der Firma sichern, und außerdem bekam die Region durch die neue Fabrik haufenweise Arbeitsplätze. Was beschwerten sie sich also eigentlich? Völlig erledigt verließ er, wie immer als Letzter, das Bürogebäude. War klar, dass die restliche Belegschaft bereits weg war und ihn wieder bis halb neun schuften ließ! Er musste arbeiten, Aufträge ergattern und für alles die Verantwortung übernehmen, und was war der Dank dafür? Nur seine harte Arbeit, sein unermüdlicher Einsatz und seine äußerste Disziplin hatten ihn und die Firma so weit gebracht! Hätte er immer die anderen alles machen lassen, wären sie vermutlich längst bankrott. Gerade wollte er sein Handy aus der Tasche ziehen, um zu checken, ob es während der Videokonferenz noch etwas Neues gegeben hatte, als ihm einfiel: Er hatte es ja in seinem Büro zum Laden abgelegt und nicht daran gedacht, es wieder mitzunehmen! Na super, und jetzt? Ihm blieb keine Wahl: Tasche ins Auto, und dann nochmal hoch ins Büro.

Gerade war er in den Aufzug nach oben gestiegen und die Türen schlossen sich schon, als im letzten Moment noch jemand mit in den Aufzug sprang. Eine junge Frau von vielleicht 30 Jahren kam fröhlich, „Hallo!“ flötend, herein. Sie sah – wenn man es so ausdrücken wollte – aus wie das wandelnde Chaos: langes, lockiges, blondes, wirres Haar, ein strahlendes, völlig grundloses Lächeln, ein luftiges gelbes, ungebügeltes Sommerkleid, barfuß und die vollgestopfte Handtasche sowie die hochhackigen Sandalen locker über die Schulter geworfen. Thomas starrte diese – in seinen Augen unmögliche – Person halb überrascht, halb erschrocken an, während sich der Aufzug in Gang setzte. „Wer sind Sie denn?“, entfuhr es ihm, aber er fasste sich wieder und fügte – er wollte nicht unhöflich sein – hinzu: „Arbeiten Sie hier?“ „Das kann man so sagen. Ich bin eine von Herrn Ernsts Untergebenen, wie dieser Tyrann es ausdrücken würde“, gab sie schmunzelnd zurück. „Ich bin Miranda, und wer sind Sie?“, ergänzte sie. „Mein Name ist Herr Ernst, Herr Doktor Ernst, und ich bin der Tyrann – äh, Chef dieser Firma, das werden Sie doch hoffentlich wissen“, antwortete Thomas mit genervtem Unterton. „Ups, sorry!“, erwiderte Miranda und grinste über das ganze Gesicht. „Was machen Sie hier noch so spät?“, fragte Thomas nach. „Meinen Job“, gab Miranda knapp zurück. „Schickes neues Bürogebäude übrigens!“, kommentierte Miranda beiläufig das moderne Design des Aufzuges. „Tja, die Firmen, die hier am Bau beteiligt waren, habe ja auch alle ich ausgewählt, sonst wäre das nie so gut geworden“, reagierte Thomas stolz auf das Lob.

Plötzlich verspürte er einen Ruck, dann blieb der Aufzug stehen. Erschrocken blickte er sich um, und auch seine Mitfahrerin guckte etwas verdutzt drein. „Was ist denn jetzt wieder los?“, brummte er verärgert. „Tja, die Technik, auf die ist eben kein Verlass…“, kommentierte Miranda mit spitzbübischem Blick die Situation, „vielleicht ja ein Stromausfall.“ „Nein, daran liegt es sicher nicht, das Licht funktioniert noch. Außerdem blinkt das Störung-Lämpchen. Da haben sicher die Techniker wieder gepfuscht. Wenn man nicht alles selbst macht…“ „Wie war das? Sie haben die Firmen ausgewählt, die das hier fabriziert haben? Da haben Sie wohl wieder nur auf den Preis geschaut und nicht auf die Qualität“, beschwerte Miranda sich, verschmitzt lächelnd. Thomas schnaubte wütend. Was fiel der eigentlich ein? Ihn zu kritisieren! Noch bevor er sich verteidigen konnte, fuhr sie fort: „Bestimmt kommt gleich jemand, der uns hier rausholt. Der Aufzug wird ja wohl wenigstens eine Art Warnsystem haben, das automatisch Hilfe holt, wenn da schon kein Alarmknopf ist. Oder ist der irgendwie versteckt? Mal sehen.“ „Die Mühe können Sie sich sparen, es gibt keinen“, gab Thomas unruhig zu. Miranda starrte ihn ungläubig an: „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, jeder Aufzug hat irgendeine Warnfunktion!“ „Dieser hier aber nicht, wie Sie sehen! Und jetzt hören Sie auf zu motzen und helfen Sie mir lieber zu überlegen, wie wir hier rauskommen!“, schnauzte Thomas sie an. Langsam stieg ein beklemmendes Gefühl in ihm auf. Nicht schon wieder! In engen Räumen hielt er es nie lange aus, Grund dafür war ein Trauma. Vor ein paar Jahren hatte er sich bei der Erkundung einer Höhle verlaufen und war letztlich zwei Tage in völliger Dunkelheit und Enge festgesessen, bis ihn ein Suchtrupp gefunden hatte. Seitdem bekam er in engen, geschlossenen Räumen nach einer gewissen Zeit immer Panik, und gerade war er wieder einmal kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Ausgerechnet das musste seine einzige Schwäche sein – als, aus seiner Sicht, sonst perfektem Menschen! „Haben Sie ein Handy, mit dem wir Hilfe holen können?“, fragte er Miranda. „Wieso sollen wir mit meinem Handy telefonieren, wollen Sie Telefonkosten sparen, oder wie?“, antwortete sie ihm provozierend. „Nein, ich habe meines oben im Büro liegenlassen“, brummte Thomas, sie drängend, zurück. „Jetzt machen Sie schon!“ „Ist gut, war ja nur ein Scherz! Wo habe ich es nur gleich…?“ Miranda begann, in ihrer Handtasche zu wühlen. Das konnte ja dauern… Thomas versuchte unterdessen, seine immer stärker werdende Panik zu unterdrücken, aber die Angst stieg in ihm hoch – er konnte bald nicht mehr.

Endlich sah Miranda von dem Haufen auf, der sich vor ihrer mittlerweile leeren Handtasche gebildet hatte, jedoch mit schlechten Nachrichten: „Tja, ich hab’ mein Handy wohl im Auto vergessen. Da kann man nichts machen!“ Jetzt übermannte ihn die Panik endgültig. Wütend trommelte Thomas gegen die Türe. Er wollte einfach hier raus! Tränen rannen ihm übers Gesicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt und das Atmen fiel ihm schwer. Währenddessen stand Miranda nur seelenruhig da und sah Thomas mit hochgezogenen Augenbrauen skeptisch an. Was war denn mit dem jetzt los? Sonst war er immer gefasst, und nun rastete er komplett aus.

Nach einiger Zeit sank Thomas schließlich restlos entkräftet zu Boden. Der sonst immer so unnahbare und strenge Geschäftsmann wirkte völlig verloren. Miranda versuchte ihn zu trösten, legte ihm einen Arm um die Schulter und redete beruhigend auf Thomas ein: „Jetzt regen Sie sich erst einmal ab, wir kommen hier schon wieder raus! Sie haben selbst gesagt, dass uns Jammern nicht weiterhilft. Bestimmt wartet bei Ihnen zu Hause schon wer auf Sie, Ihre Frau vielleicht, die sich bereits wundert, wo Sie so lange bleiben. Dann wird schon jemand nach uns suchen!“ „Ach, machen Sie sich da mal keine allzu großen Hoffnungen, vor Montag früh wird niemandem auffallen, dass ich nicht da bin“, antwortete Thomas resigniert. „Wenn Sie schon allein leben, dann werden Sie wohl wenigstens eine Verabredung haben, mit Freunden oder Kollegen“, versuchte Miranda weiter, ihn aufzuheitern. Doch Thomas wurde nur noch deprimierter, als er eingestand: „Nein, meine Wochenenden verbringe ich allein, meistens arbeite ich noch an irgendwelchen Projekten weiter, zu denen ich unter der Woche nicht komme. Andere Leute treffe ich eigentlich nie, wenn es nicht ums Geschäft geht.“ „Aber wieso das denn“, fragte Miranda erstaunt, „sind Sie denn nicht einsam?“ „Ach woher, in der Arbeit habe ich genug mit Menschen zu tun, geschäftliche Freunde müssen deswegen reichen. Für mehr habe ich einfach keine Zeit, das Leben besteht nur aus Arbeit, das hat mich mein Vater schon immer gelehrt. Wer sich nicht immer anstrengt, sondern seine Zeit verschwendet, aus dem wird nichts.“ Unglücklich lehnte sich Thomas an die Wand des Aufzugs. „Warum?“, forschte Miranda weiter. „Man wird nicht glücklich, wenn man nur den ganzen Tag arbeitet. Haben Sie denn wenigstens Freunde in der Arbeit? Kollegen, mit denen Sie sich gut verstehen?“ „Aber davon verstehen Sie doch überhaupt nichts! Als Geschäftsmann hat man eben auch nur – wie schon erwähnt – geschäftliche Freunde, die einem etwas nützen, die einem selbst oder der Firma weiterhelfen. Für mehr ist da, schon rein zeitlich, gar kein Platz! Und außerdem: Als Chef kann man nicht mit einem seiner Mitarbeiter befreundet sein! Denen gegenüber muss man souverän und selbstbewusst auftreten, damit etwas vorwärtsgeht, und nicht auf freundschaftlicher Ebene“, erklärte Thomas. Miranda blickte ihn verständnislos an: „Also, wie kann man nur so verbissen auf seine Arbeit fokussiert sein? Was glauben Sie denn, warum Sie niemand als Chef leiden kann?“ „Na, weil die mich alle nicht verstehen, darum! Dabei will ich doch nur das Beste für sie und die Firma, nichts weiter“, entgegnete er barsch. „Genau das ist ja das, was ich Ihnen die ganze Zeit zu erklären versuche! Es gibt noch mehr außer Arbeit und Geld, und in diesem Punkt verstehen Sie Ihre Mitarbeiter nicht. Denen sind noch andere Dinge wichtig, die haben eine Familie, Freunde, die sie regelmäßig treffen, ein Leben. Übrigens: Warum, denken Sie, waren vorhin so viele Leute da, um gegen den Bau der neuen Fabrik zu demonstrieren? Eben nicht, weil sie gegen Sie oder Ihre Firma sind, sondern weil ihnen der Ort, die Natur um ihre Wohnungen und Häuser herum wichtig ist! Es gibt Dinge, die haben mehr Bedeutung als Geld, ob Sie mir das nun glauben oder nicht.“

Thomas wusste nicht, was er von dieser seltsamen Person, die ihm derart respektlos und unverblümt die Stirn bot, halten sollte. Keiner wagte es, ihn – Dr. Thomas Ernst, Chef eines erfolgreichen Unternehmens – derart offen zu kritisieren und ihm vermeintliche Unzulänglichkeiten so frech unter die Nase zu reiben! So eine Unverschämtheit! Und doch – sein ganzes Leben lang war er derart auf seine Arbeit und auf Erfolg fokussiert gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass das Leben noch andere Dinge bot, die das Leben erst richtig lebenswert machten. Stück für Stück sickerte bei ihm die Erkenntnis durch, warum die Menschen gegen den Bau einer neuen Fabrik waren und warum Herr Müller zu seiner Mutter ins Pflegeheim wollte, um ihr in ihrer schweren Krankheit beizustehen. Eine Art schlechtes Gewissen machte sich in ihm breit. Aber nein – pah! – alles Blödsinn. Er würde sich von dieser dahergelaufenen Miranda, die er ja nicht einmal ansatzweise kannte und einordnen konnte, nicht belehren lassen! Was erlaubte sie sich eigentlich? Sollte sie erstmal ihr eigenes chaotisches Leben in den Griff bekommen! Und doch, irgendwie hatte sie ja recht mit dem, was sie sagte...

Was Thomas in der hitzigen Diskussion mit Miranda völlig vergaß, das war seine Angst. Die Panik vor dem Eingesperrtsein und vor der Enge des Aufzugs war nahezu verschwunden und wurde von der Unterhaltung völlig verdrängt. Umso länger er sich mit Miranda unterhielt, umso mehr verstand er, was ihm in seinem Leben fehlte und was in seinem Leben alles schiefgelaufen war. Und noch viel wichtiger, er begann zu begreifen, dass seine Firma und das Geld eben nicht das oberste Ziel im Leben waren und dass sein Vater in dieser Hinsicht immer Unrecht gehabt hatte. Innerlich beschloss er daher, dass er an seinem Dasein grundlegend etwas ändern wollte. Und je weiter sie ihre Unterhaltung fortsetzten, desto mehr manifestierte sich dieser Entschluss in ihm und entwickelte sich langsam zu einem festen Vorhaben.

Durch die lange Diskussion mit Miranda fiel Thomas gar nicht auf, wie die Zeit verstrich. Erst als ihn ein Klopfen und ein lautes „Hallo?“-Rufen aus seiner Unterhaltung rissen, erkannte er wieder, dass er sich ja noch immer in dem Aufzug befand. Und einige Augenblicke, nachdem er die Geräusche von oben vernommen hatte, setzte sich der Aufzug endlich wieder in Bewegung. Gott sei Dank, sie waren gerettet! Kaum dass die Türe sich öffnete, stürmten ihm schon zwei Sanitäter entgegen. Hatte also endlich jemand bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Aber … wieso war es hell? Es war doch mitten in der Nacht! Und warum waren da Sanitäter? So lange waren er und Miranda gar nicht in dem Aufzug gewesen! Als er den Aufzug verließ, schallte ihm schon ein Stimmengewirr entgegen: „Dass er es so lange da drinnen ausgehalten hat!“ – „Ein Wunder, dass er nicht zusammengebrochen ist!“ Thomas war hinreichend irritiert und fragte schließlich bei einem der beiden Sanitäter nach, was denn eigentlich los und warum es bereits wieder helllichter Tag sei. „Sie machen wohl Witze, Sie waren seit Freitagabend da drinnen gefangen! Es grenzt an ein Wunder, dass sie das so gut überstanden haben. Seien Sie nur froh, dass sie so aufmerksame Mitarbeiter haben! Ihrer Sekretärin ist heute Morgen gleich aufgefallen, dass etwas nicht stimmt, nachdem Sie nicht pünktlich an Ihrem Arbeitsplatz erschienen sind, obwohl Ihr Auto am Parkplatz stand. Und als der Hausmeister auch noch bemerkt hat, dass der Aufzug eine Störung hat und feststeckt – das hat er selbstverständlich gleich allen mitgeteilt –, da hat sie sofort geahnt, was passiert sein musste. Wie gesagt, Sie hatten echt einen guten Schutzengel, außer einer leichten Dehydrierung scheint Ihnen nichts zu fehlen. Es gibt Leute, die drehen in solchen Situationen komplett durch.“ „Wie, es ist schon Montagmorgen?“, erkundigte sich Thomas verdattert und: „Wo ist eigentlich Miranda hin?“ Die Sanitäter sahen einander verwundert an. „Miranda – sie war mit im Aufzug!“ „Äh, da war niemand mit Ihnen im Aufzug! Hier, trinken Sie erst einmal ordentlich Wasser – Dehydrierung kann manchmal leichte Wahrnehmungsstörungen auslösen.“ Als ob er halluzinieren würde! Er hatte das alles bei vollem Verstand miterlebt, konnte sich noch genau an ihr ausführliches Gespräch erinnern – und an Mirandas leicht spitzbübischen, aufmunternd-strahlenden Blick! Unmöglich – ohne sie hätte er nicht das ganze Wochenende in dem Aufzug überstanden! Und doch … Miranda war nirgends zu sehen, wie vom Erdboden verschluckt – obwohl er fühlte, nein wusste: Sie hatte ihm die ganze Zeit beigestanden und war irgendwie noch immer da. Er lächelte. Dr. Thomas Ernst lächelte! „Trinken Sie erst einmal etwas, dann geht es Ihnen wieder besser“, empfahl ihm auch der zweite Sanitäter. Kaum hatte Thomas die Flasche Wasser, die man ihm gereicht hatte, ausgetrunken – er war tatsächlich sehr durstig, nur war ihm das auf seltsame Weise nicht einen Moment bewusst gewesen –, sprang er auf und machte sich – begleitet von den überraschten Blicken der Umstehenden – auf den Weg in Richtung Büro. „Halt, wo wollen Sie denn hin?“, rief ihm der verblüffte Sanitäter, dem er die leere Wasserflasche in die Hand gedrückt hatte, hinterher. „In mein Büro, ich muss eine falsche Entscheidung rückgängig machen.“ Am Rande der Menschentraube, die sich um das Geschehen gebildet hatte, entdeckte er in diesem Moment Herrn Müller. „Ach, guten Tag, Herr Müller, tut mir leid wegen meiner üblen Laune am Freitag, Ihre Krankschreibung genehmige ich selbstverständlich nachträglich! Wie geht es denn Ihrer Mutter? Sagen Sie ihr gute Besserung von mir!“

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