ERINNERUNGSKULTUR
Ein Klassenfoto als Zeitdokument
Jeder von uns hat Erfahrungen mit Klassenfotos und weiß, wie bedeutsam oder auch unangenehm sie für den Einzelnen sein können. Was dachten wohl die Schüler auf dem Foto, als sie dieses Foto 1914 zum ersten Mal sahen? Ob ihnen die Brisanz der weltpolitischen Lage damals bewusst war, wissen wir nicht. Dieses Foto soll uns an die Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnern. Im Folgenden ein paar Hintergrundinformationen für die heutigen Betrachter*innen dieser Tafel im Treppenhaus unseres Altbaus:
Der Name der Schule
Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und bis zur Revolution 1918 hieß unsere Schule Königliches Humanistisches Gymnasium zu Ingolstadt, anschließend Humanistisches Gymnasium Ingolstadt. Vor 1919 waren nur Buben an dieser Schule zugelassen. Erst 1965 wurde die Schule nach dem Humanisten Johannes Reuchlin benannt, der für kurze Zeit Anfang des 16. Jahrhunderts an der Universität Ingolstadt Hebraistik lehrte und damals einer der wenigen Fürsprecher für den Erhalt der jüdischen Schriften war.
Ein seltenes Fotodokument
Im Schularchiv sind nur wenige Klassenfotos aus der Anfangszeit der Schule überliefert. Dieses Foto stammt aus dem Nachlass von Heinrich Stepper (obere Reihe, Zweiter v. rechts) und kam dankenswerterweise über den Enkel seines Bruders, Frank Stepper, an unsere Schule zurück. Dieses seltene Fotodokument ist besonders interessant im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg und den ehemaligen jüdischen Schülern, die von Nationalsozialisten verfolgt, ermordet oder vertrieben wurden.
Zuordnung der Klasse und der Schüler
Aus den Jahresberichten von damals können wir jeweils den Schülernamen, das Geburtsdatum, den Geburtsort, die Religionszugehörigkeit sowie den Beruf des Vaters entnehmen.
Doch die Zuordnung der Personen ist nur teilweise möglich, weil in der Regel Fotodokumente zum Vergleich fehlen. Zu den jüdischen Schülern Adolf Gunzenhäuser und Max Schloss haben wir Vergleichsfotos, die ihre Identifizierung ermöglichen. Da sie nur im Schuljahr 1913/14 den gleichen Jahrgang und somit die gleiche Klasse besuchten, ist diese Zuordnung eindeutig. Es handelt sich um die 6. Klasse aus dem Schuljahr 1913/14. Dies entspricht der 10. Klasse nach heutiger Zählung. Außerdem stimmt die Anzahl der Schüler auf dem Foto mit der Klassengröße am Ende des Schuljahres überein. Die Datierung auf Mai 1914 ergibt sich durch die Kastanienblüten, die im Hintergrund zu erkennen sind.
Nur sechs Schüler können wir auf dem Foto sicher zuordnen. Interessanterweise stehen sie fast alle nebeneinander. Die beiden jüdischen Schüler stehen voreinander. In der letzten Reihe als Dritter von rechts steht Max Schloss mit dem Kinn verdeckt. Adolf Gunzenhäuser steht direkt vor ihm mit der markanten dunklen Locke auf der Stirn. Rechts neben Max (aus der Perspektive des Betrachters) steht Heinrich Stepper mit auffällig hoher Frisur. Davor und rechts neben Adolf finden wir Joseph Bengl, etwas kleiner und mit Brille. Links neben Adolf steht Christian Grünewald mit kurzen blonden Haaren. Rechts außen mit dem Unterarm auf der Schulter seines Vordermanns sehen wir Johann Hofmann in lässiger Haltung.
Getötet im Ersten Weltkrieg und als Helden verehrt
Vier Schüler, Joseph Bengl, Johann Hofmann, Heinrich Ostermair und Heinrich Stepper, sind im Ersten Weltkrieg oder auch etwas später an ihren Kriegsverwundungen gestorben und anschließend auf der „Ehrentafel“ im ersten Stock des Altbaus in patriotischer Verklärung (chronologisch nach Sterbedatum) aufgelistet worden. Später wurde auch noch Fritz Fleischmann auf der rechten der beiden kleinen Seitentafeln ergänzt.
Schon zu Kriegsbeginn hatte Schulleiter Joseph Flierle angeregt, eine Gedenktafel für die im Krieg umgekommenen ehemaligen Schüler aufzuhängen. Dieser Plan wurde schließlich 1921 hier im Treppenhaus von seinem Nachfolger Gebhard Himmler umgesetzt. Himmlers Sohn Heinrich wurde später Reichsführer SS und war für die Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten hauptverantwortlich.
Quellenlage und Einzelschicksale
Aus den Kriegsstammrollen lässt sich oft heute noch der militärische Werdegang und Einsatz der Soldaten im Ersten Weltkrieg nachvollziehen. Doch diese Quelle ist auch nicht in jedem Fall überliefert. Beispielsweise wissen wir, dass Max Schloss vom 28.03. bis 05.04.1918 zur Behandlung einer Kehlkopfentzündung im Lazarett war. Damals war er laut Kriegsstammrolle an der „Durchbruchsschlacht“ bei Bapaume in Nordfrankreich beteiligt.
Der Kriegseinsatz von Adolf Gunzenhäuser war vor allem in Rumänien. Zum Jahreswechsel 1916/17 war er im Lazarett nördlich von Bukarest, um seine Bronchitis und eine Hautkrankheit mit Furunkeln behandeln zu lassen.
Aus den handschriftlichen Erinnerungen von Adolf Gunzenhäuser wissen wir, dass es beschwerliche vier Tage dauerte, bis er im Lazarett in Ploesti (Ploiești) ankam. Das Stadtarchiv Ingolstadt erhielt mit den Erinnerungsblättern 1897 – 1938 von Adolf Gunzenhäuser ein ganz außergewöhnliches Zeitdokument durch Bruce Werner, dem Enkel unseres ehemaligen Schülers.
Da handschriftliche Aufzeichnungen von damals mitunter nur schwer zu entziffern sind, ist die weitgehend mit Schreibmaschine geführte Kriegsstammrolle von Christian Grünewald für uns heute ein besonderer Glücksfall. Für ihn selbst noch viel wichtiger war natürlich, dass er anscheinend den Krieg ohne nennenswerte körperliche Verletzung überstanden hatte und vom Gefreiten zum Leutnant der Reserve und Zugführer aufgestiegen war.
Heinrich Ostermair meldete sich in den Sommerferien 1916 freiwillig zum Heer und starb ungefähr ein halbes Jahr später am 04.02.1917 durch einen Granatschuss. Johann Hofmann war Funker und starb durch Artilleriegeschoss am 28.06.1918. Heinrich Stepper starb im Rang eines Leutnants früh am Morgen des 18.07.1918 in Nordfrankreich unweit von Rouen durch Granatfeuer. Fritz Fleischmann kam erst im Februar 1914 in die Klasse, zwei Jahre später wurde er zusammen mit weiteren Klassenkameraden zum Militär eingezogen und am 18.08.1918 – wenige Wochen vor Kriegsende - nach einem Patrouillengang als vermisst gemeldet. Joseph Bengl, der jüngste Schüler der Klasse, starb am 02.02.1919 im Lazarett in Ingolstadt. Wegen seiner im Krieg erlittenen Lungenverletzung hatte er keine ausreichenden Widerstandskräfte gegen die damals grassierende Spanischen Grippe. Nachträglich wurde ihm noch die höchste bayerische militärische Auszeichnung verliehen, der Militär-Max-Joseph-Orden.
Von Nationalsozialisten verfolgt und vertrieben
Die beiden jüdischen Schüler dieser Klasse wurden später von Nationalsozialisten verfolgt und vertrieben. Adolf Gunzenhäuser verließ Deutschland bereits 1933. Zunächst ließ er sich an die Auslandsniederlassung seiner Firma in Mailand versetzen und flüchtete schließlich 1938 weiter in die Schweiz, von wo ihm mit seiner Familie 1941 die Flucht in die USA gelang. Sein Bruder Josef wurde 1942 im Ghetto Theresienstadt von Nationalsozialisten ermordet. Ihre Mutter überlebte das Ghetto Theresienstadt und folgte Adolf in die USA. Max Schloss wurde während der Novemberpogrome 1938 aus seiner Wohnung in Berlin in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Nach seiner Entlassung flüchtete er Anfang 1939 mit seiner Familie über Kuba in die USA. Seine Schwester konnte mit ihrer Familie in die Türkei entkommen, wo sie unter sehr schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen nur knapp überlebte. Der Vater von Max, vormals Gemeindevorstand in Ingolstadt, erkrankte während seiner sehr beschwerlichen Flucht durch die Sowjetunion, China, Japan, Panama und die Dominikanische Republik. Als er endlich 1942 bei seinem Sohn in den USA eintraf, lebte er nur noch wenige Monate.
Offene Fragen und bleibende Aufgabe
Wer im Krieg starb oder wer wegen seiner jüdischen Religion von Nationalsozialisten verfolgt und vertrieben wurde, lässt sich relativ leicht feststellen. Doch welche psychischen Folgen der Krieg hatte, ist viel schwieriger zu erforschen. Die Generation gerade dieser Klasse erlebte heftige politische Umbrüche und einschneidende wirtschaftliche Krisen zwischen dem Ende des Kaiserreichs und dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg.
Fragen nach politischer Gesinnung oder persönlicher Verantwortung im Krieg und während der NS-Gewaltherrschaft sollten gestellt werden, auch wenn sie deutlich schwieriger zu beantworten sind. Wer von den Schülern auf dem Klassenfoto von 1914 - nach der Erziehung im Kaiserreich – ein überzeugter Demokrat wurde, wäre interessant herauszufinden.
Erinnerungskultur ist inzwischen ein wichtiger Teil der Demokratieerziehung geworden. Heute bleibt es unsere Aufgabe, uns für eine friedliche, offene und demokratische Gesellschaft einzusetzen.
Markus Schirmer
Würdige Abschlussveranstaltung des Erinnerungsprojekts - im kleinen Kreis mit großer Wirkung
Mit der Enthüllung der Erinnerungstafel für zwölf ehemaligen jüdische Schüler des Humanistischen Gymnasiums Ingolstadt – so hieß das Reuchlin-Gymnasium früher – fand am 25. Februar 2021 die Arbeit des P-Seminars Geschichte 2019/2021 einen würdigen Abschluss. Alle Beteiligten waren glücklich, dass dieser wichtige „Schlussstein“ des Erinnerungsprojekts zum Holocaust noch vor dem Ende des ersten Halbjahres gesetzt werden konnte, weil es coronabedingt immer wieder zu Verzögerungen gekommen war.
„Somit kehren auch die zwölf ehemaligen Schüler wieder in den Altbau zurück“, wie Evelina Koschelew bei ihren Begrüßungsworten sehr treffend bemerkte. Es war ein Glücksfall, dass die Anzahl der Schüler mit israelitischer Religionszugehörigkeit am Humanistischen Gymnasium zwischen der Gründung um 1900 und dem Holocaust mit der Teilnehmerzahl im P-Seminar aufging. So hatte jedes P-Seminarmitglied im Verlauf des Projektes eine „Patenschaft“ für einen ehemaligen jüdischen Schüler übernommen und trug bei der Feier zur Enthüllung der Tafel wichtige Lebensdaten vor. Leonie Hauch erklärte zu Beginn ihren Entwurf der Erinnerungstafel. Sie betonte, wie wichtig es für das Seminar gewesen sei, dass „alle ehemaligen Schüler gleich groß dargestellt werden, weil alle Schüler gleichermaßen geehrt werden“ sollten. Außerdem wurde mit der schlichten und in Grautönen gehaltenen Farbgebung der ernsthafte und traurige Charakter der Erinnerungstafel unterstrichen.
Für die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer war es schade, dass sie bei diesem wichtigen Abschluss ihrer Projektarbeit allein im Schulhaus waren und dass keine Gäste an der Veranstaltung teilnehmen konnten. Schulleiterin Edith Philipp-Rasch griff diesen Umstand in ihrer Rede auf und sprach über die schmerzlichen Erfahrungen der zwölf ehemaligen Schüler: „Für die meisten hat es geheißen, ich muss meine Heimat zurücklassen. Für einen hat es sogar geheißen, er muss sein Leben lassen. Und sie werden wahrscheinlich viele Momente der Einsamkeit durchgemacht haben. “
Durch die Film-Dokumentation von Felix Kaiser können alle auch im Nachhinein teilnehmen, die gerne dabei gewesen wären. Auch die ausführliche Berichterstattung von Christian Silvester im Donaukurier ermöglichte es jedem Interessierten, sich zeitnah zu informieren. Zu dieser Personengruppe zählen auch die Angehörigen der ehemaligen Schüler in den USA und England. Erst deren Unterstützung für das Projekt ermöglichte eine so umfangreiche Dokumentation der Familienschicksale im Holocaust, die direkt mit unserer Schule verbunden sind.
Das Seminar hat im Verlauf der vergangenen anderthalb Jahre Kontakt zu Nachkommen von sieben ehemaligen Schülern aufgenommen. Charlotte Janis in Atlanta, die Tochter von Kurt Hermann, stellte die Verbindung zur Kuratorin Kassandra LaPrade Seuthe vom Holocaust Memorial Museum in Washington DC her. Im Verlauf des Seminars standen fast alle Schülerinnen und Schüler mit ihr in E-Mail-Kontakt. Ihre unermüdliche Unterstützung öffnete bei der Recherche nach Informationen viele auch unerwartete Türen, die zu dem Erfolg führte, der durch die vielen Bilddokumenten in den Ausstellungen deutlich wurde.
Doch begonnen wurde die Recherche vor Ort in Ingolstadt in den Schülerakten und Jahresberichten im Schularchiv, sowie im Stadtarchiv und Stadtmuseum Ingolstadt. Die enorme Vorarbeit zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Ingolstadt durch Dr. Theodor Straub gehört zu den günstigen Voraussetzungen des Projekts. Die kontinuierlichste Unterstützung erfuhr das Projekt von Lutz Tietmann, dem Mitbegründer der Ingolstädter Gedenk-Initiative und Mitarbeiter im Stadtarchiv Ingolstadt für jüdische Geschichte.
Abschließend sei allen gedankt, die zum Erfolg dieses Projektseminars beigetragen haben – zunächst natürlich den Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern, die enormes Engagement, Geschick und vor allem Durchhaltevermögen bewiesen haben. Die ganze Schulgemeinschaft hat uns sehr unterstützt. Unsere Schulleiterin Edith Philipp-Rasch sowie Kolleginnen aus der Fachschaft Geschichte, Eva Heindl und Ursula Winberger, sowie Verantwortliche aus dem Bereich Kulturschule, Angelika Wulf, Robert Aichner und Christian Albert, sollen hier stellvertretend genannt werden. Last, but not least sei allen Angehörigen der ehemaligen jüdischen Schüler für ihre wertvolle Unterstützung von Herzen gedankt. Die von ihnen bereitgestellten Quellen und Kontakte erlauben noch folgenden Schülergenerationen am Reuchlin-Gymnasium eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema.